Der raue Soundtrack dieser Stadt (Aus der Bahn 2 | 12)

P1060641Ich trage seit Anfang Januar Kopfhörer und kämpfe mit sommerlichen Latin-Rhythmen gegen den rauen Soundtrack dieser Stadt.

Die Kopfhörer erfüllen ihre Funktion als Scheuklappen. Heute habe ich meine Kopfhörer vergessen und wickle stattdessen meinen Schal um den Kopf. „Scarf-face!“, denke ich und grinse vor mich hin. Das irritiert die Mitfahrer. Ich schließe die Augen und versuche an Musik zu denken: Funny van Dannen. Sein Song „Lesbische schwarze Behinderte“ war nie einer meiner Favoriten. Warum läuft der jetzt? Ich öffne die Augen. An der Haltestelle Quitzowstraße steigt eine Rollstuhlfahrerin in den völlig überfüllten M27’er und positioniert sich auf ihrem Behindertenparkplatz. Eine Frau mit Kinderwagen konnte in letzter Sekunde weichen. Nach Anfahren des Busses bittet die Rollstuhlfahrerin einen älteren Mann, seinen Penis aus ihrem Gesichtsfeld zu nehmen. Gerade in der Lautstärke, dass jeder es hören kann, der seine Kopfhörer vergessen hat. Dieser, verschämt, entschuldigt sich für seinen Penis und rückt brav zur Seite.

Osloerstraße/Ecke Prinzenallee steige ich um in die M13. Ich hole bei der Überquerung der Prinzenallee einen alten Mann mit Skistock ein. Er klopft mit dem Stock die Straße ab und hebt im Takt seinen linken Arm: „Vorsicht, Vorsicht!“ Auf diese Weise kämpft er sich durch die träge Masse. Als ein Junge ihm in die Quere kommt, funktioniert er seinen Skistock zur Harpune um: „Aus der Bahn! Aus der Bahn!“ Der Junge und sein Freund bleiben fassungslos mitten auf der Straße stehen. „Ich bin behindert!“, erklärt sich der Alte den geöffneten Mündern und zeigt auf seine gelb-schwarze Armbinde. „Der ist doch nicht blind?“, fragt der Junge. „Wie man’s nimmt.“, sagt sein Kumpel. Eine Krankenwagensirene singt: „Es herrscht Krieg in der Stadt, Krieg und Krawall“. Ich stolpere an der Schönfließerstraße schweißgebadet aus der Niederflurbahn und rufe: „Prenzlauer Berg! Prenzlauer Berg! Ho-, Ho-, Holzspielzeug!, Ho-, Ho-, Holzspielzeug!“ Ein genügsamer schwäbischer Gesichtsausdruck, ein verzogenes Kind in Lacoste-Pullunder, das wär‘ jetzt was! Doch der Geist, den ich rief, schläft noch fest und tief: Freundlichkeit hält Winterruhe.

(Teil 2/12 aus der Reihe “Aus der Bahn”, veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Februar 2014)

Playlist:

„Lesbische Schwarze Behinderte“ – Funny van Dannen

„Krieg“ – Farin Urlaub Racing Team

„Prenzlauer Berg“– Rainald Grebe

Servicekraft auf dem Abstellgleis. Meine Zeit als Nachtdienst in einem Frauenhaus in Berlin

Foto0037Vor einem Jahr etablierte sich in mir mehr und mehr ein klares Verlangen: Ich möchte Gutes tun! Doch wie geht man so ein Vorhaben an? In einer nächtlichen Aktion schrieb ich Emails an einen Großteil der gefühlt 1000 Berliner Kulturhäuser und Sozialberatungen und weihte sie in meine Weltverbesserungspläne ein. Keiner von ihnen wollte eine Philosophiestudentin auf seine Klienten loslassen. Mein Mut wollte mich gerade wieder verlassen, als mich das Angebot erreichte, als studentischer Nachtdienst in einem Obdachlosenheim für Frauen zu arbeiten.

Wenige Tage später saß ich mit der ketterauchenden Heimleitung im Hinterhof eines Frauenwohnheims in Berlin-Wedding und ließ mir von den prekären Arbeitssituation erzählen. Man dürfe kein „Mäuschen“ sein, arbeite allein und hätte die volle Verantwortung für vierzig Frauen. Die meisten Frauen sind psychisch krank, fuhr die Heimleiterin fort. Manche gehören eigentlich in eine Klinik, es gäbe viele Fälle von Schizophrenie. Warum die dann hier landen würden, fragte ich. Das läge an einer Lücke im Sozialsystem.

Es gäbe da nämlich Menschen, die als nicht- oder nur schwer therapiefähig gelten. Ihr Leben ist durchlaufen von Drogenmissbrauch, Konflikten mit dem Gesetz, sexuellem Missbrauch und wiederholter Wohnungslosigkeit. – Erfahrungen, die ein Mensch allein nicht tragen kann. Um weitere Verletzungen zu vermeiden, bauen diese Menschen jedoch eine so dicke Mauer um ihre Seele, dass es sehr zeit- und kraftaufwändig ist, an sie heranzukommen. – Und gerade an Kraft und Zeit fehlt es den Psychiatern.

Eigentlich ähnelt dieses Wohnheim einem Abstellgleis. Die Betreuer sind Servicekräfte, die versuchen, den Bewohnern den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen.

Nach zwei Hospitationen stand meine erste eigene Schicht an. Meine Einarbeiterin J. riet mir, die sogenannte Trainerpauschale für studentische Nachtdienste nicht auf die Stunden herunterzurechnen. Da käme man nur auf fünf Euro, schob sie hinterher. Nun gut. Es ging ja um eine gute Sache.

J. arbeitete bereits seit zwei Jahren als Nachtdienst. Sie hatte ihre festen Muster etabliert, mit den Bewohnerinnen umzugehen, hatte ihre einstudierten Sätze, den immer gleichen Tonfall und wählte bei jeder Konfrontation automatisch den geeigneten Sicherheitsabstand. Ich als Neuling war überzeugt, dass es auch anders gehen würde.

Anfangs waren die Frauen durchaus sehr freundlich, erzählten aus ihrem Leben und bedankten sich oft. Auch untereinander waren sie größtenteils loyal. Wenn seelisch kranke Menschen miteinander leben, werden sie ihre Toleranzschwelle wohl oder übel heben müssen, nach dem Prinzip: Ich toleriere deine Macke, bitte toleriere auch meine; lass mich mit dem Wasserkocher reden, dann lass ich dich auch die Toilettenspüle zehn Mal hintereinander betätigen. Ich fand es sehr interessant zu beobachten, wie die Bewohner es teilweise schafften, Konflikte unter sich auszuhandeln. Nicht selten hatte ich das Gefühl, dass die ein oder andere Spießer-WG hier etwas lernen könnte.

Einen Monat lang glich mein Dienst eher einer Feldforschung, bis es während der fünften Schicht zur ersten Grenzerfahrung kam. In das Wohnheim war gerade eine Frau mit schweren Drogenproblemen und Halluzinationen gezogen. Sie erlitt in meiner Anwesenheit eine Panikattacke, zog mich in ihr Zimmer und schaltete das Licht aus. Auf ihrem Teppich blitzte ein Messer, in der Ecke lagen blutige Taschentücher. Sie meinte, ich solle mich nicht beunruhigen, ich solle nur sagen, ob da Tiere in ihrem Zimmer seien.

Die monatliche Teamsitzung präpariert einen nicht für solcherlei Situationen. Einzig dein Überlebensinstinkt rät dir, ruhig und rational zu bleiben. Fragen nach Sicherheit, Freiheit und Wahrheit erscheinen dir in diesem Moment lebensfern. Wenn jemand dich derart in seine Welt zieht, siehst du die Raubtiere, die diese Person tagtäglich hetzen; keine Hirngespinste einer Verrückten, sondern Verbildlichungen einer untragbaren Leidensgeschichte.

Ich bekam sie dazu, das Licht anzuschalten. Nachdem ich jede Ecke im Zimmer nach giftigen Insekten durchsucht hatte, wollte sie mir als Zeichen ihrer Kooperationsbereitschaft ein Tütchen Marihuana zustecken.

Draußen an der frischen Luft begann sie über die Ursachen ihrer Ängste zu sprechen. Mir wurde klar, dass ich hier meine Aufgabe überstieg. Laut Vertrag sollte ich nicht mehr als eine lebendige Sicherheitskamera sein. Während ich ihr meine volle Aufmerksamkeit widmete, dachte ich an die 39 anderen Frauen. Nach fünfzehn Minuten machten sich zwei von ihnen lauthals bemerkbar. Frau H. behauptete, dass Frau K. mir ihrem exzentrischen Parfüm einen Ausschlag begünstige. Solange Frau K. das Parfüm nicht weglasse, wüsste Frau H. sich nicht anders zu helfen, als laut zu schreien anzufangen, wenn Frau K. in ihre Nähe kommt. Mögen diese Machtspiele einem Außenstehenden lächerlich erscheinen, so geht es auch hier ums schiere Überleben. Man kämpft im Obdachlosenheim um jeden Zentimeter Freiraum, und jeder Zipfel Eigentum kann zum Schatz werden. Eins der schlimmsten Gefühl muss sein, kein Revier mehr zu haben, das es zu verteidigen gilt. Solange man kämpft, ist man wenigstens noch lebendig.

Als ich nach dreizehn Stunden Dienst das Wohnheim verließ, erschien mir der Wedding verändert. Wie kann ich weiter hier leben, dachte ich, wenn ich weiß, was hinter mancherlei Mauern, in mancherlei Seelen vor sich geht? Ich betrachtete die Menschen mit verändertem Blick, sie machten mir plötzlich Angst. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal einen Job gefunden zu haben, bei dem ich wirklich etwas leisten konnte. Pro-Contra, Ja-Nein, Angriff-Verteidigung? Auch ich war gespalten. Nie zuvor empfand ich das so deutlich wie jetzt.

Ich arbeitete ungefähr fünf Mal monatlich im Obdachosenheim. Nach sieben Monaten fühlte ich mich halbwegs ausgebrannt. Als ich bemerkte, dass ich mich aus Selbstschutz immer mehr mit einer distanzierten Sozialarbeiter-Attitüde umgab, beendete ich vorerst meine Dienste.

Ich kann gut verstehen, dass man als Sozialarbeiter und Psychologe nach wenigen Jahren lieber den Bürostuhl drückt oder gar in Frührente geht, als das Risiko einzugehen, irgendwann auf der anderen Seite des Therapietisches zu landen. „Abgrenzen“ ist eine Utopie. In uns blinken viel zu viele Spiegelneuronen, als dass solcherlei Grenzerfahrungen irgend jemanden kalt lassen könnten. So wie in dieser Einrichtung müssen nicht selten vier feste Mitarbeiter die Verantwortung für vierzig Bewohner übernehmen und täglich neue Anfragen abweisen. Die Chance auf einen Platz ist etwa so hoch, wie einen Studienplatz an der Deutschen Filmhochschule zu bekommen. Wer sich beim Vorstellungsgespräch gut benimmt, hat vielleicht eine Chance. Und wer nicht? Der geht für einige Tage zurück in die Notunterkunft, auf das Abstellgleis vor dem Abstellgleis.

(gekürzte Version unter dem Titel „Mauern um die Seele. Meine Zeit bei der Wohnungshilfe für Frauen im Wedding“ erschienen am 29.01.2014 im Tagesspiegel /Ressort Berlin. Und auf dem Wedding-Blog des Tagesspiegels)

Gestörte Betriebsabläufe im Bezirksdreieck. Die Bornholmer Straße und ihre Bewohner

f4144028Der Bahnhof, an dem ich wohne, ist einer der hässlichsten in Berlin. Dem Osten erscheint er als Tetrisblock, dem Westen wirbt er mit französischen Backwaren, die es gar nicht gibt.

Die zwei Eingänge zu den Bahngleisen befinden sich auf der Bösebrücke, die bedrohlich wackelt, wenn die M13 über sie fährt, gegen die regelmäßig PKW’s krachen, weil der Fahrstreifen hier ein paar Zentimeter schmaler ist und die Fahrmarkierungen fehlen. Aber die Stahlbrücke steht stramm seit 1916. Sie hat den schwarzen und den roten Block getragen, sie hat die Massen getragen, die 1989 von den Prenzlauer Berg in den Wedding stürmten und „Wahnsinn!Wahnsinn!“ schrien. Ein Aufhetzen, ein Hinhetzen, ein Weghetzen klebt an dieser Brücke.

Am S-Bahnhof Bornholmer Straße gibt es keinen Ansager und keine Servicekraft. Wir sind der erste Halt im Tal der Ahnungslosen. Wenn der Betriebsablauf gestört ist, entstehen Gerüchte, und eine seltsame Dynamik im „Sich-gemeinsam-Empören“ – darüber, dass ein Stromkasten explodiert, eine Bremsflüssigkeit eingefroren oder ein Baum umgefallen ist. Im alten Jahr störte zwei Mal ein Suizid am Gesundbrunnen meinen Betriebsablauf; einer um Weihnachten und einer um Ostern. Irgendjemand stieg drum in die M13, traf seine große Liebe und wird sich für immer an diesen Tag erinnern. Oder er verpasste seine große Liebe, wird es aber nie erfahren. Der Gleis-Suizid hat die Macht eines umfallenden Baumes.

Ich wohne jetzt schon sieben Jahre an der Bösebrücke. Erst wohnte ich in ihrem Osten, jetzt wohne ich im Westen. Ich bin eingekesselt von einem Bezirksdreieck, dessen Zentrum ein Strudel ist, ein Zeitstrudel vielleicht. Die Mauer, die es nicht mehr gibt, spüre ich noch ganz genau. Sie war da, wo heute Lidl steht; da, wo die japanischen Kirschen stehen, die im Januar blühen, weil sie hier nicht hingehören. Sogar den roten Wedding spüre ich. Wenn ich über die Brücke laufe, stelle ich mir manchmal vor, es ist Blutmai und ein Kugelhagel hetzt hinter mir her. Außerhalb meines Bezirksdreiecks bekomme ich ein Gefühl dafür, dass ich da drinnen zu Hause bin. Aber sobald ich da drinnen bin, fühlt es sich falsch an; I’m off beat, komm‘ auf zwei und vier, bin immer an der Grenze. Ich spring im Dreieck, wo die Mauer mal stand. Ich sitze auf ihr mit baumelnden Füßen; grüß‘ hier Schrebergartenomi, da Senegal-Jungen, dort Muttifreundin. Ich spiele Himmel und Hölle in der Grauzone. Bin gar nicht da. Bin gar nicht hier. Hello-Goodbye.

Heimat ist die Bornholmer Straße für mich geworden, obwohl ich an einem anderen Mauerstück aufgewachsen bin. Dort, wo die Stelen des Mahnmals ragen und Merkel ihre Reden hält. Aber von dort wurde ich längst vertrieben, ich kann die Spuren schwer verfolgen. Ich weiß, dass wir als Kinder Mauerstücke abgeklopft haben. Ich war traurig, als sie die Mauer abtrugen, weil mein erster Spielplatz im Leben verschwand. Mehr verstand ich nicht.

Seither suche ich. Und diese Sucherei wird am besten wiedergegeben auf der Hetzbrücke, im Bezirksdreieck, wo alle zu wohnen scheinen, die sich nicht entscheiden können. Heimat kann das hier nur werden für Menschen, die so richtig Heimat niemals haben werden.

 (Veröffentlicht am 09.01.14 im Wedding-Blog des Tagesspiegels und auf www.quiez.de)

Die orangen Füchse von Berlin (Aus der Bahn 1 |12)

f4193853Zwei ältere Herren in orangen Westen stehen um zwei Uhr nachts auf den Stufen des S-Bahnhofes Prenzlauer Allee und befreien sie vom Großstadtschmutz.

Eine Kaskade erschleicht ihren Weg in den Abgrund. Keine Zikade begleitet den ruhigen Fluss. Fast lautlos, kein Platschen, kein Tropfen, nur ab und an das Geräusch der hölzernen Besenstiele, die an die steinerne Bahnhofswand stoßen. Klack, Klack. Im Takt. Sieht so das Glück aus? Ruhe durchströmt mich. Ein Gedanke von Harmonie. Alles im Einklang. Natur im dreckigen Großstadtwald. Hyänen stampfen links und rechts an den orangen Männern vorbei, beeinflussen den Fluss des Wassers, zerstören den Takt der Besen. Wie scheue Füchse, die ihren Rivalen mit Ehrfurcht gegenüber stehen, gelähmt von der souveränen Ziellosigkeit der nächtlichen Jäger, halten die Männer Inne und warten bis der Ansturm vorüber ist. Sie wollen sich an Wänden entlang schleichen; tun, was sie tun müssen; nicht gestört werden. Sie wollen unsichtbar sein.

Als die Bahn einfährt, folge ich widerwillig den Hyänen in den leeren Wagon. Grelles, weißes Licht verhört mich: Wo willst du hin? – Ich weiß nicht… Zum Glück bestimmen die Gleise den Verlauf. Ich sitze auf einem Dreiersitz im Durchgang und starre sinnlos aus dem Fenster. Da ist nichts. Was suchst du? In jeder Kurve windet sich neben mir das akkordeonförmige Verbindungsglied und lässt den S-Bahnmagen knurren. Ich sitze im leeren Bauch eines Tausendfüßers. Die Heizungsluft kleidet meine Kehle mit Schleifpapier aus. Das Gliedertier kommt ins Stocken und ich schleich‘ mich fort auf leisen Socken.

Die Ampel tickt nervös: Nun geh schon! Geh doch endlich! Ich denke daran, dass die BSR-Männer bestimmt eine Familie haben. Wenn ihre Kinder zur Schule gehen, kommen sie nach Hause. Wenn die jetzt Feierabend hätten, dann wüssten die wohin. Und ich stehe immer noch an dieser Ampel und beantworte ihr penetrantes Ticken mit dem Geknirsche unter meinen Winterstiefeln. Die fleißigen Füchse haben mir Sand ins Getriebe gestreut. Ich stehe hier wie ein Rennpferd in den Startlöchern und scharre mit den Hufen. „Pirschen statt knirschen!“, sagt die Ampel. Ich renne wiehernd in die Dunkelheit.

(Teil 1/12 aus der Reihe „Aus der Bahn“, veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Januar 2014)

Ein Sonntagnachmittag im Mauerpark

29.September (1)29.09.2013. Ein Drachen am Himmel mokiert sich über das Flugzeug aus Tegel, weil es irgendwo hin muss. „Der sollte sich einfach mal treiben lassen!“, empfiehlt der gut gelaunte Überflieger. „Das Glück hängt an der langen Leine! Es hat sowieso immer ein Anderer in der Hand.“

Ich stimme ihm zu, dass heute ein guter Tag zum Drachensteigen, Späße treiben und daheim bleiben ist. Ich gehöre eh zu den Unentschlossenen. Für ein Reiseziel kann ich mich schlecht entscheiden. Wenn ich in den Mauerpark gehe, liegt mir gleich die ganze Welt zu Füßen. Gerade eben erst habe ich mir auf dem Trödelmarkt meine Lederstiefel von einem Wessi polieren lassen. Nach getaner Arbeit kaufte ich dem Niedersachsen gütig eine Dose seiner Göttlichen Lederpflege ab. Ein Ghanaer verkaufte mir seine handgenähte Tasche zum halben Preis, „weil du bis‘ Berlin wie ick!“. Er nähe gern für Berliner; sein Label heißt Born to Live – Berlin. In die neu erworbene Tasche steckte ich Handy, Schlüssel, Portemonnaie und Terminkalender, zog den Reißverschluss fest zu und erstickte all‘ meine wertvollen Sorgen in der samtenen Wärme Ghanas. Hinter mir nickt die Schau-kel. Sie hat zugeschaut.

Mittlerweile hat sich vor uns ein Australier mit Pferdekopf aufgebaut. Er spielt auf seiner E-Gitarre mit herunter gelassener Hose „Highway to hell“. Nach dem ersten Song verschwindet fast die vollständige Flasche Sternburg Export in seinem langen Pferderachen. „Nichts zu machen!“, sagt der Drachen. „Da kann man ja nur lachen!“, ruft die Schaukel und fängt an zu quietschen. Eine ältere Frau tippt dem nackten Gitarristen während des zweiten Songs auf die Schulter und erkundigt sich, was er da tue. Er hört auf zu spielen, nimmt seine Maske ab und antwortet brav: „I came here to make a film about „what’s it like to live the life of a street musicain“, but i lost my camera.“ Dann hält der Junge ein Pappschild mit seinem Facebook-Namen in die verloren gegangene Kamera: The Neigh-Kid Horse. Es hagelt Applaus und Gelächter. Nur die alte Frau versteht nichts und fragt sich besorgt: „Was ist eigentlich mit den Australiern los? Sie spielen alle Gitarre, hören Rockmusik und nutzen jede Gelegenheit, sich auszuziehen. Sie haben keine Haare auf der Brust, aber dafür eine Menge Albernheiten im Sinn… und immer ein Bier in der Hand. Ob das die Verbrechergene sind?“ Bevor mir eine Antwort einfällt, kontert die Schaukel mit einem schauen Spruch: „Da sprechen wohl die Nazi-Gene!“ Sie ist offensichtlich stolz, kein Mensch zu sein. Der Drachen drängt darauf, den Himmel nicht für Telegenese zu nutzen, er kriege kaum noch Luft. Nachdem wir die verwirrte Rentnerin verabschiedet haben, löst sie sich in tausend Teile auf und ertränkt The Neigh-Kid Horse in einem Konfettiregen. Der Australier wiehert, der Drachen lacht, die Schaukel quietscht und ich bemitleide das Flugzeug, weil es irgendwo hin muss.

(Veröffentlicht in den Prenzberger Ansichten, November 2013)

Bedingungslose Empörung über Egalomanie

Angela Merkel auf BorkumIn den nächsten 5,5 Jahren wird es in der Schweiz einen Volksentscheid zur Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens geben. Laut Gesetzesentwurf sollen jedem Schweizer 2500 Franken ausgezahlt werden, ca. 2025 Euro. Soviel Geld fürs Auf-der-faulen-Haut-Liegen? Hier kommen einige Argumente, warum die Egalomanie abnehmen würde, sofern ein Bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt würde.

Ich habe in diesem Jahr meine Erststimme dem Kollegen Ralf Boes gegeben, der die Initiative Bedingungsloses Grundeinkommen ins Leben rief und für sein Ideal in den Hungerstreik trat. Den Wahlkreis Mitte hat er mit 0,8 % nicht für sich gewinnen können. Stattdessen ist auf seiner Website aktuell von gesundheitlichen Folgeerscheinungen seiner Hunger-Aktion zu lesen. Ist so viel Einsatz lohnenswert? Was ist das für ein Mensch, der lieber hungert, als Hartz IV zu bekommen? Ralf Boes studierte u.a. Germanistik und Philosophie in Heidelberg. Als  er selbst aus familiären Gründen auf finanzielle Hilfe für Frau und Kind angewiesen war, begann sein Windmühlen-Kampf gegen das entmündigende Sozialsystem. Seither engagiert er sich als Dozent, Sozialarbeiter und Bürgerinitiativler für eine Besserung der prekären Situation in Deutschland, die nach Boes mit der Einführung des Hartz IV seinen Höhepunkt erreichte.

Was ist eigentlich so schlimm an Hartz IV? Sollten die Menschen nicht glücklich sein, dass ihnen bei der Jobsuche geholfen wird und sie monatlich Geld bekommen?  Die Argumente, dass Hartz IV jedem Menschen eine Möglichkeit auf Arbeit gibt, die Belange des Einzelnen berücksichtigt und zur Grundsicherung beiträgt, laufen auf philosophischer und psychologischer Sicht ins Leere. Jeder, der schon einmal auf soziale Hilfe angewiesen war – sei es Bafög, Wohngeld oder Hartz IV – weiß wahrscheinlich, auf welches entmündigende und entwürdigende Gefühl Ralf Boes referiert. Zuerst einmal stellt sich ein Gefühl der Schuld und des Versagens ein. Ich habe versagt, weil ich aus dem Arbeitssystem falle, weil ich mich für etwas interessiere, das nicht gewürdigt wird – Ist das meine Schuld? Umso mehr unterliege ich dem äußeren Druck, erfolgreich zu sein. Aber dieser Zwang, etwas bestimmtes  tun zu müssen, wirkt lähmend statt fördernd; In jemandes (beispielsweise eines Amtes) Schuld zu stehen wirkt lähmend statt fördernd. Der Philosoph Peter Bieri (ein Schweizer!!!) schreibt in seinem Buch „Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens“:

Im Innern von fremd anmutenden Wünschen umstellt zu sein, ist, als ob man innerhalb von Gefängnismauern lebte, und das Verstehen ist das Mittel, sie niederzureißen.

Wenn ich abhängig bin, bin ich aber fremdbestimmt und demnach unfrei. Das Einzige, das das Sozialsystem noch aufrecht hält, sind die Unsicherheit und Angst der Bürger, die schon lange nicht mehr verstehen, was sie da tun. Im besten Fall bleibt ihnen ihr schlechtes Gefühl. Ich hatte dieses schlechte Gefühl beispielsweise in der letzten Woche auf dem Bürgeramt Wedding. Mein Mitbewohner besitzt keine EC Karte, aber im Bürgeramt ist Bar- und Kreditkartenzahlung nicht möglich. Also mussten wir zum Rathaus Wedding fahren, an einen Kassenautomaten gehen, seine Gebühren begleichen und mit der Quittung zurück zum Bürgeramt fahren. Mit was für einem Gefühl von Sinnlosigkeit fährt man in diesem Fall durch die Stadt? Und dem Mitarbeiter sieht man an, dass er sich freundlich lächelnd jeder Verantwortung entzieht, denn „er hat ja die Gesetze nicht gemacht, er macht ja nur seinen Job“. Ähnlich könnte auch unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel argumentieren: Hartz IV hat sie ja wirklich nicht gemacht – aber auch nicht verhindert. Der Merkel-Kult ist für mich das beste Zeichen für eine ängstliche, unkreative und unmündige Wählerschaft. Merkel ist nahezu unpolitisch und deshalb ist es kein Wunder, dass sie sogar ihre Anhänger in der Hipster-Szene gefunden hat, der womöglich unpolitischsten Jugendbewegung aller Zeiten.

Ich habe allmählich das Gefühl, viele Bürger sind von einer Egalomanie betroffen und sehen die Gefängnismauern gar nicht mehr, innerhalb derer sie ihre Kreise laufen. Dieses Gefühl der Entfremdung macht uns zu einer kranken Gesellschaft, einer Borderline Gesellschaft. Wir sind Missbrauchsopfer, die mit ihren Tätern sympathisieren. Jedes neue Gesetz, ist ein Gesetz zu viel, wenn nicht zuvor zehn andere abgeschafft werden, denn im Paragraphendschungel erkennen wir ja bald das wichtigste aller Gesetze nicht mehr: Das Gesetz der Gefühle. Weg mit der Gefühlsleere, her mit einer Gefühlslehre! Wie soll Simone de Beauvoir so schön gesagt haben?: „Ein Gefühl ist ein Engagement, das den Augenblick überschreitet“. Was einmal gefühlt, ist längst entschieden, also beginnen wir doch einfach wieder damit, uns auf unser Gefühl zu verlassen und engagieren uns ihm entsprechend. Ralf Boes hat das getan. Aus seiner Aktion spricht tiefste Verzweiflung. Vielleicht, weil seinem Ideal des Bedingungslosen Grundeinkommens so große Steine in den Weg gelegt werden. Bis Januar 2014 sammelt die Europäische Bürgerinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen noch Unterschriften. Nicht einmal ein Viertel der geforderten 1 Millionen Stimmen sind bisher gesammelt worden. Ich habe dabei ein ungutes Gefühl.