Teil 12: Byung-Chul Han (*1959)

„Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein“

Byung-Chul-Han-foto

In der letzten Folge tauchten wir in das Leben des fast vergessenen DDR-Philosophen Georg Klaus ein. Der Kybernetiker hatte die Zukunftsvision von einem Informationszentrum, in dem weltweit verfügbares Wissen gespeichert wird. Die Kommerzialisierung des Internets erlebte Klaus nicht mehr, denn er starb bereits 1974. In Berlin-Schöneberg lebt heute ein Philosoph, der sich mit den negativen Folgen unserer Informationsgesellschaft auseinandersetzt: Byung-Chul Han. Er steht dem grenzenlosen Internet kritisch gegenüber. Byung-Chul Han sagt, die Fülle an Informationen macht uns müde und krank.

Byung-Chul Han ist in Seoul geboren. 1980 kam er nach Deutschland. Hier studierte er neben Philosophie auch Theologie und Literatur. Er promovierte zu Heidegger, obwohl er sich der Philosophie von Hegel näher fühlt. Seit 2012 ist Han Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der UDK Berlin. In den letzten vier Jahren ist er zum Vorzeigephilosophen der Stadt avanciert. Byung-Chul Han erscheint an erster Stelle, wenn man im Internet nach Berliner Philosophen sucht. Ob ihn das freut? Schließlich steht Han der Konsumgesellschaft sehr kritisch gegenüber.
In seinem Buch „Psychopolitik“ vertritt er die These, das neoliberalistische System unserer Zeit würde die Freiheit instrumentalisieren. Den Monopolen würden wir gegenüber stehen wie Leibeigene vor Feudalherren: Wir arbeiteten für sie und bekämen Land dafür. Die Feudalherren schlügen Profit aus unserer Arbeit und gäben uns das Gefühl, frei zu sein. Doch was als Freiheit empfunden würde, wäre in Wirklichkeit Zwang. Die Menschen täten sich so schwer, dagegen zu protestieren, weil sie das vermeintliche Freiheitsgefühl nicht als Zwang erkennen. Weil sie auf die Vorteile dieses Abhängigkeitsverhältnisses, auf billige Klamotten oder kostenlosen Zugang zu Social Media-Plattformen nicht verzichten wollen.
Byung-Chul Hans Zeitanalyse geht noch weiter. Seiner Meinung nach ist die digitale Gesellschaft eine Klassengesellschaft. Big Data-Firmen würden ihre Konsumenten nach Marktwert einteilen. Wer kreditunwürdig ist oder nicht fleißig konsumiert, ist in ihren Augen nichts wert. So hätten beispielsweise viele Hartz IV-Empfänger mit Angst und Scham zu kämpfen, da sie wie Müll behandelt würden. Das wiederum mache sie handlungsunfähig.
Auf die Psyche des Menschen habe die neoliberale Gesellschaft also fatale Folgen. Die Menschen würden liebesunfähig und müde, sie erkrankten an Burn-Out und Depressionen. Hans amerikanisiertes Geburtsland Süd-Korea weist heute die höchste Selbstmordrate weltweit auf. In Seoul gäbe es sogar Selbstmordseminare. Elektronische Trost-Botschaften, die an Brückengeländern befestigt sind, sollen die Einwohner vom Sprung in den Tod abhalten.
Was hat Byung-Chul Han dieser kranken Welt entgegenzusetzen?
Wo man mit ständiger Überforderung zu kämpfen hat, da gibt es dann vielleicht doch eine hilfreiche Methode aus Hans Geburtsland Süd-Korea: die buddhistische Meditation, die er in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ auch als „tiefe Langeweile“ bezeichnet. Sollen wir also üben, uns zu langweilen? Ist das die Lösung? Sollten wir nicht lieber auf die Straße gehen?
In einem Artikel in der SZ schreibt Han, warum er eine Revolution nicht für die Lösung hält. Er denkt nicht, dass der aktive Widerstand zu einer Besserung führt, weil der Feind heute unsichtbar sei. Ein Protest käme einer Demonstration gegen sich selbst gleich. Schließlich sei doch jeder nicht nur Opfer, sondern auch Täter des Systems. Stattdessen scheint das kritische Denken für ihn das beste Rezept zur Weltveränderung. Denn Denken kann nach Han sehr explosiv sein. In einem Interview sagt er, das Basteln an Gedanken wäre „vielleicht gefährlicher als die Atombombe“. Ruhig schlafen könne er trotzdem nicht. Und die Frage, ob er glücklich sei, stelle er sich gar nicht.

Aktuelles zu Byung-Chul Han:
Isabella Gressers Film „Müdigkeitsgesellschaft“ bei dem Prenzlberger Verlag Matthes&Seitz erhältlich. Die Videokünstlerin Isabella Gresser begleitete in Ihrem Film den Philosophen Byung-Chul Han in Berlin und Seoul. Bei dem „Achtung Berlin“-Festival 2015 in Berlin erhielt der Film den ökumenischen Jury-Award.

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Mai 2016)

Teil 11: Georg Klaus (1912-1974)

Ein Querdenker in der DDR

klaus_georgIn der letzten Folge begleiteten wir den Psychoanalytiker Wilhelm Reich auf seinem steinigen Weg in das amerikanische Exil. Ebenso wie Reich, war auch der Kybernetiker Georg Klaus zeitgleich aktives Mitglied der KPD. Doch im Gegensatz zu Reich, entging er der politischen Verfolgung nicht durch Exil, sondern saß seine Gefängnisstrafe im Konzentrationslager Dachau ab. Danach begann er eine scheinbar vorbildliche Karriere als DDR-Wissenschaftler – bis ihm auch die kommunistische Diktatur zum Verhängnis wurde …

Nach Kriegsende setzt Georg Klaus seine politische Karriere bei der SED fort und nimmt ein Studium in Jena auf. Zu seinem Lehrer gehört der Logiker Max Bense, der ihn mit der Kybernetik bekannt macht. Die Kybernetik ist zu dieser Zeit eine sehr junge Wissenschaftstheorie, als dessen Begründer der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener gilt. Als Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen ist die Kybernetik ein Vorbereiter der Informatik. Forschungsschwerpunkt der Kybernetik ist jedoch nicht nur die künstliche Intelligenz, sondern auch die Steuerung sozialer Prozesse. Klaus‘ wird von nun an bemüht sein, die neuartigen Ansätze der Kybernetik für die Ost-Politik zweckdienlich zu machen.
Vorerst dient ihm zur Verbreitung seiner systemtheoretischen Theorie eine Professur für historischen Materialismus an der Berliner Humboldt Universität. Ab 1953 ist ihm der Lehrstuhl für Logik und Erkenntnistheorie inne. Zu dieser Zeit ist der Philosoph 
Heinz Liebscher Student bei Klaus. Nach seinen Aussagen, sei Georg Klaus zu jeder Zeit bewusst gewesen, mit wie viel parteitreuen Formulierungen man eine Forschungsarbeit füttern müsse, um dem Geschmack der obersten Instanz gerecht zu werden. Seine erste Schrift zur Kybernetik erscheint 1961: „Kybernetik in philosophischer Sicht“ erreicht bis 1964 vier Auflagen. Diese und weitere Veröffentlichungen zur Kybernetik stellen in den Augen des DDR-Regimes eine verkappte Annäherung an den amerikanischen Geist dar. Nicht nur wendet sich Klaus gegen die Verschleierung politischer und philosophischer Wahrheiten durch die Partei. Auch ist die von Klaus angestrebte „Soziokybernetik“ zeitgleich in den USA durch Rudolf Carnap en vogue, und wird einige Jahre später mit dem westdeutschen Soziologen Niklas Luhmann populär werden.
Klaus sieht trotz seiner aufrichtigen marxistisch-leninistischen Einstellung keinen Grund, der Wissenschaft Grenzen aufzuerlegen. Als Wissenschaftler hat er die Vision, jedem Menschen einen freien und unbegrenzten Zugang zu Wissen zu ermöglichen.
Unter 
Walter Ulbricht wird die Kybernetik Ende der sechziger Jahre kurzerhand in „marxistisch-leninistische Organistationswissenschaft“ umbenannt. Ulbricht versucht auf diesem Wege, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Steuerungssystemen für sich zu nutzen. Die transformierte DDR-Kybernetik ist jedoch nicht mehr im Sinne Klaus‘. Er arbeitet in den Siebzigerjahren an einem demokratischen System, welches ein unverfälschtes Wahlergebnis garantieren soll. Ihm schwebt ein Abstimmungsapparat vor, der in jedem DDR-Haushalt installiert wird, um die politische Mitsprache der Bürger zu fördern. Während der Informationsübermittlung soll die Richtigkeit der Abstimmung geprüft werden. Mit der Vorarbeit für diesen Wahl-Computer fordert Klaus das demokratische Selbstverständnis der DDR heraus – und geht im Kampf um einen „besseren“ Sozialismus als Verlierer hervor. 1971 beginnt Georg Klaus‘ – von Staatswegen beschlossene – Abwendung von der Kybernetik. Im Land wird er nunmehr bestenfalls geduldet; an der Universität, mehr als zuvor, seiner wissenschaftlichen Freiheit beraubt.
Wer nun vorschnell meinen mag, Klaus‘ könne aufgrund der ideologischen Färbung seiner Schriften, die wissenschaftliche Integrität abgesprochen werden, unterschätzt womöglich sein demokratisches Engagement. Nach seinem Verständnis zeichne sich ein ideale Sozialismus nicht nur durch Interdisziplinarität, sondern auch durch freien Wissens-Zugriff aus. 1974 erscheint sein Aufsatz „Zukunftsperspektiven“, in dem er unter anderem die Vision von „Informationszentren, in denen im Prinzip das ganze gegenwärtige Wissen der Menschheit vorhanden ist“, formuliert. Auch seine weitere Weissagung ist heute bereits erschreckend wirklich geworden: „
In Zukunft wird man nicht mehr Zeitung lesen. Unsere hypothetische Informationszentrale wird eine Riesenzeitung für die ganze Welt herausgeben, die jedem das gibt, was er benötigt.“
Seine letzten Lebensjahre verbringt Georg Klaus in Berlin-Wilhelmshagen. Er stirbt 1974 im Alter von 61 Jahren an einer Gelbfieberinfektion.
(Mehr zur Kybernetik in der DDR gibt es nachzulesen in dem Sammelband: „Kybernetik steckt den Osten an“, Trafoverlag, Berlin, 2007.)

Was danach geschah:
– bis 1987: in vierzehn Auflagen erscheint das „Philosophische Wörterbuch“, das von Georg Klaus und Manfred Buhr herausgegeben wird.
– 2011: der Schriftsteller 
Marc Schweska verarbeitet Klaus als Figur in seinem Roman „Zur letzten Instanz“.

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, März 2016)

Teil 10: Wilhelm Reich (1897-1957)

… ein planetarer Arzt“

wilhelm ReichIn der letzten Folge blickten wir zurück auf die Begegnung zwischen Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey in Berlin. Beide Philosophen kritisierten die Verdinglichung des Menschen durch die Naturwissenschaften. Mit der Phänomenologie wurde der Mensch in der Philosophie nicht mehr als objektiver Körper behandelt, den man zerlegen und erklären kann, sondern als fühlendes, denkendes, wollendes Wesen mit leiblichen Erfahrungen. Keine logischen Operationen, sondern praktische Beobachtungen sollten Erkenntnisse darüber liefern, was der Mensch eigentlich ist. Die Psychoanalyse nach Sigmund Freud leistete hierzu einen wichtigen Beitrag. Er teilte die Psyche in Ich, Es und Über-Ich und zeigte damit, dass nicht nur Intellekt, sondern auch Trieb und Erziehung einen Einfluss auf die Seele des Menschen üben.

Wilhelm Reich war ein Schüler Freuds. Er radikalisierte Freuds Libidotheorie; machte aus ihr eine Orgasmustheorie. Die Unterdrückung sexueller Bedürfnisse führten nach Reich dazu, dass 90% der Frauen und 60% der Männer Orgasmusstörungen hätten. Dies begünstige Neurosen, welche nicht nur persönliches, sondern vor allem gesellschaftliches Leid erzeugten. Eine Folge dieser kollektiven Sexualstörung sei der Faschismus. In der Konsequenz gab Wilhelm Reich 1930 seine ärztliche Privatpraxis in Wien auf, um in Berlin aktiv gegen den Faschismus zu kämpfen.
Ist Faschismus eine Krankheit?
– 1929 äußert Wilhelm Reich diese Vermutung vor dem „inneren Kreis“ seiner Kollegen. Das Treffen findet in Sigmund Freuds Privathaus statt. Der psychoanalytischen Vereinigung käme die Aufgabe zu, wirtschaftliche und sexuelle Veränderungen des Lebens einzuleiten, sagt er; der „epidemischen Verbreitung der Neurosen“ müsse man entgegensteuern. Dies sei nur durch politische Aktivitäten außerhalb der Privatpraxis umsetzbar. Damit fordert er von seinen Kollegen, die ganze Gesellschaft als Patienten wahrzunehmen und sich dem entsprechend zu engagieren.
Die Freudianer reagieren mit Zwischenrufen. Doch Wilhelm Reich lässt sich dadurch nicht beirren; bringt stattdessen einen weiteren kritischen Punkt auf die Tagesordnung. Der ein oder andere ahnt schon, worauf es hinauslaufen wird. Wieder einmal betont er, wie wichtig die Aufklärung der Arbeiterschicht sei. Man müsse aus seinem geschlossenen Kreis ausbrechen. Er selbst ist ja schon mit gutem Beispiel voran gegangen, hat in Wien acht Jahre lang im „Psychoanalytischen Ambulatorium für Mittellose“ gearbeitet. Doch Freud und seinen Anhängern missfällt diese Form politischen Aktivismus. Sie protestieren erneut. Wilhelm Reich versucht sie zu beruhigen. Er ist selbstsicher. Später wird man ihn auch als stur und exzentrisch bezeichnen.
Nach diesem Treffen kommt es zum endgültigen Zerwürfnis zwischen ihm und Freud. Reich wird sich davon noch schwer gekränkt zeigen. Doch vorerst führt er das Missverständnis auf die reaktionäre Gesinnung seiner Kollegen zurück. Warum sollten Ärzte keine Politik machen? Warum keine sexuelle Revolution initiieren? Wenn er im vornehmen Wien keine Verbündeten für seine Vorhaben finden kann, dann wird er es eben in Berlin versuchen. Dort sind die Menschen doch sowieso viel offener. Und weil Großstadtbewohner bekanntlich besonders stark unter stressbedingten sexuellen Stauungen leiden, wird er sicher auch genügend Patienten für sich gewinnen können.

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Künstler: William Steig

1930 zieht Wilhelm Reich nach Berlin. Er tritt dem Verein „sozialistischer Ärzte“ bei. Im Januar 1931 ruft er die Ärzte des Vereins in einer Rede dazu auf, sich für die sexuelle Befreiung der Bevölkerung einzusetzen. Mittlerweile ist Wilhelm Reich auch Mitglied der KPD und hat die Massenorganisation „Sexpol“ („Reichsverband für proletarische Sexualpolitik“) gegründet.
Zeitgleich arbeitet Wilhelm Reich in Berlin an einer freudo-marxistischen Analyse. Doch während seiner Reden teilt er mit seinen Partei- und Arbeitskollegen bereits jene Zukunftsvisionen, die erst 1933 mit „Massenpsychologie des Faschismus“ einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sein werden. Sein politischer Kampf gilt patriarchalen Familienstrukturen, und den Verboten von Homosexualität und außerehelichem Sex. Diese gesellschaftlichen Normen seien hauptsächlich dafür zuständig, dass Menschen ihre unterbewussten Bedürfnisse von Geburt an derart unterdrückten, dass sie nun gewaltsam auszubrechen drohen. Sadistische Neigungen könnten zu Fremdenhass, und Fremdenhass zu Krieg werden; sexuelle Frustration dazu führen, dass man sich die Befriedigung auf Umwegen verschafft; in der Massenekstase zum Beispiel, und der Anbetung einer Führerpersönlichkeit. Autoritäre Erziehung führt dazu, dass so viele Menschen zu Anhängern einer autoritären Ideologie werden. Eine repressive Ordnung entspricht ihren erworbenen Prägungen von Entsagung und Selbstkontrolle. Viele seien deshalb nicht imstande ein politisches Bewusstsein auszuprägen. Stattdessen handelten sie affektiv und neurotisch. Der Faschismus habe einen Weg gefunden, diese Charakterschwächen auszunutzen. Deshalb sei sexuelle Aufklärung und der Kampf gegen Neurosen der einzige Weg, einer Nazi-Invasion entgegenzuwirken.
1934 schließt die KPD Wilhelm Reich aus ihrer Partei aus. Seine Ideen von Familie und Sexualität widersprechen der stalinistischen Ideologie. Im selben Jahr unterschreibt auch Sigmund Freud Reichs Ausschluss aus der IPV. Er wird zum politisch Verfolgten, verlässt Berlin, flieht erst nach Schweden, dann nach Dänemark, danach nach Norwegen. Asyl erhält Wilhelm Reich erst 1939 in den USA.

Was danach geschah:
1940: Wilhelm Reich entdeckt die Lebensenergie „Orgon“ und entwickelt Orgon-Akkumulatoren, die unter anderem in der Krebstherapie eingesetzt werden sollten.
1951: im Oranur-Experiment forscht er zur Neutralisierung radioaktiver Strahlung. Nach einem Unfall entwickelt Reich erst den DOR-Buster und dann den Cloud-Buster, mit denen er „tödliche Orgonenergien“ bekämpfen möchte. Die Atomlobby beginnt, seine Arbeit zu behindern.
1955: gerichtliches Verbot der Orgon-Akkumulatoren und Verbrennung seiner Bücher.
1956: Verhaftung wegen „Missachtung des Gerichts“.
03.11.1957: Wilhelm Reich stirbt während der Haft in Lewisburg, Pennsylvania.
Posthum: seine Thesen werden während der 68’er Bewegung wiederentdeckt.

Ein unvergesslicher Satz: „Ich bin dein Arzt, und da du diesen Planeten bevölkerst, bin ich ein planetarer Arzt; ich bin kein Deutscher, kein Jude, kein Christ, kein Italiener, sondern Bürger der Erde.“

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Januar 2016)

Teil 9: Wilhelm Dilthey (1833-1911)

Wilhelm Diltheys folgenschwere Begegnung mit Edmund Husserl

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1905, ein Jahr bevor Hannah Arendt in Linden (Hannover) geboren wurde, kommt es in Berlin zu einem bedeutsamen Treffen zweier älterer Philosophen. Es soll über einen Paradigmenwechsel in der Philosophie diskutiert werden; der Eine hat ihn vorbereitet, der Andere soll ihn umsetzen …

Bei dem Älteren handelt es sich um den 74-jährigen Wilhelm Dilthey. Er ist seit zwölf Jahren Professor an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Die Stadt ist Dilthey vertraut. Hier hat er Theologie studiert. Nachdem er 1856 sein Staatsexamen abgelegt hatte, wurde er Lehrer am Joachimsthaler Gymnasium. Nach einer Promotion zur Ethik Schleiermachers folgte eine Habilitation zum moralischen Bewusstsein. Zusammen gerechnet hatte er nun schon ein Drittel seines Lebens in Berlin verbracht.
Der 46-jährige Edmund Husserl reist im Jahr 1905 von Halle an. Auch er kennt die Stadt, wenn auch weniger gut als Dilthey, von seinem Philosophie- und Mathematikstudium an der hiesigen Universität. Details des Treffens sind nicht bekannt. Es darf darüber spekuliert werden, welchen Datums und welchen Ortes sich das Treffen abspielt.Der Gegenstand des Gesprächs ist ein kürzlich erschienenes Werk Husserls, das den Titel „Logische Untersuchungen“ trägt. Der entscheidende Anteil Diltheys Schriften ist der Geschichtsphilosophie zuzuordnen, wie sie maßgebend von Friedrich Hegel und Karl Marx geprägt wurde. Er vertritt die Auffassung, dass jeder Ausdruck des Lebens in Philosophie, Kunst oder Religion nur im Kontext der Geschichte verstehbar ist. Hierzu zählt er die individuelle Geschichte der Urheber und die gesellschaftlichen Umstände. Seine philosophische Methode nennt er Hermeneutik. Die Wissenschaft, welche sich mit solchen „Ausdrücken des Lebens“ beschäftigt, und diese nach der hermeneutischen Methode vergleicht, beobachtet und zergliedert, bezeichnet er als Geisteswissenschaft. So gilt Dilthey als Begründer des Feldes der Geisteswissenschaften, wie wir sie heute kennen.
Angesichts der Bedeutung, die Dilthey um 1900 zukam, darf vermutet werden, dass Husserl sich einigermaßen geehrt fühlte, als ihn die Einladung nach Berlin erreichte. Doch welches Interesse mag Dilthey an Husserls Schrift haben, widmeten sie sich bisher doch anscheinend ganz unterschiedlichen Bereichen der Philosophie?
Zu allererst verbindet die beiden Philosophen das Interesse an der noch jungen Psychologie. Husserl ist als Schüler Franz Brentanos interessiert an einer psychologisch fundierten Philosophie. Auch logische Untersuchungen geschehen bei ihm deshalb unter psychologischen Aspekten. Ebenso fundieren Diltheys geschichtliche Untersuchungen auf psychologische Voraussetzungen. Für Dilthey ist also Geschichte ein Ausdruck der Psyche, für Husserl Logik. Berechtigt ist deshalb die Annahme, dass beide Ansichten sich verbinden lassen. Und so wird es auch kommen: Nach dem Treffen in Berlin werden Dilthey und Husserl in Briefkontakt bleiben. Dabei versuchen sie Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Den Vorwurf Husserls, Dilthey verfalle einem Historizismus und Psychologismus, weist Zweiterer von sich. Weder sei die Welt aus einer Geschichtsanalyse, noch aus einer Analyse psychischer Vorgänge verstehbar; es gehe vielmehr um die Wechselwirkungen und die Struktur, die sich aus der Analyse ergäbe. Mit einer Weltanschauungslehre versucht Dilthey zu verdeutlichen, welchen Einfluss unsere Bewusstseinsstrukturen auf das Welt-Verständnis haben und warum unsere Perspektiven sich mit der Zeit verändern. Nach ausgiebigem Austausch der Ansichten, einigen sie sich darauf, dass ihre Ansätze doch gut miteinander vereinbar seien.
So wird Edmund Husserl später erklären, dass Wilhelm Dilthey großen Einfluss auf seine Phänomenologie hatte. Er habe ihn zum „Husserl der Ideen“ gemacht, welcher sich nun nicht mehr logischen Ausdrücken widmet, sondern dem objektiven Gehalt der unmittelbaren Erscheinungen. Denn seines Erachtens wäre es durch eine „Wesensschau des Gegebenen“ möglich, unmittelbare Erkenntnis über das wahre Sein der Welt zu erlangen. Unter Einfluss Husserls wird auch Dilthey kurz vor Lebensende seine Arbeit zur Geisteswissenschaft noch einmal überarbeiten.


Was danach geschah:
– 1911: Husserl wird mit seiner Schrift „Philosophie als strenge Wissenschaft“ zum Begründer der Phänomenologie. Diese soll, wie die Diltheysche Geisteswissenschaft, ein Wissen der Wirklichkeit ermöglichen, das über den empirischen Erkenntnisgehalt der Naturwissenschaften hinausgeht
– 1.10.1911: Wilhelm Dilthey stirbt in Südtirol
– posthum: Wilhelm Diltheys Weltanschauungs- und Geschichtslehre übt und übte Einfluss auf viele Philosophen wie Heidegger, Adorno, Cassirer, Apel, Habermas und Gadamer


Ein unvergesslicher Satz:
„Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du.“

Weiterführende Literatur:
Einen lebhaften Eindruck von Diltheys „Philosophischem Traum“ erhält man online hier: „Ein Traum“ 

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, November 2015)

 

Teil 8: Hannah Arendt (1906-1975)

Von 1929 bis 1937 erste Ehe mit Günther Stern

 

arendt1924 begegnen Arendt und Stern sich zum ersten Mal auf Kant- und Hegel-Seminaren in Marburg. Günther Stern fällt Arendt durch seine intellektuelle Brillanz auf. Doch die 18-jährige Studentin hat nur Augen für ihren Professor. Mit Martin Heidegger pflegt sie ein erotisches Verhältnis. Es wird weitere fünf Jahre dauern, bis die ehemaligen Kommilitonen sich in Berlin, fern vom ewigen Nebenbuhler Heidegger, auf einem Tanzball näher kommen. Günther Stern kokettiert in seinen Aufzeichnungen mit der Behauptung, Hannah an diesem Abend durch ein kantianisches Versprechen für sich gewonnen zu haben, das sich leider nie bewahrheitet: „Lieben sei derjenige Akt, durch den man etwas Aposteriorisches: den zufällig getroffenen Anderen, in ein Apriori des eigenen Lebens verwandle.“

Auf diesem intellektuellen Niveau führt sich das Verhältnis der beiden jungen Philosophen fort. Zwar habe es nach Stern sinnliche Momente zwischen ihnen gegeben; er erinnere sich an leidenschaftliche Kirschen-Orgien auf dem gemeinsamen Balkon in Potsdam-Drewitz – Hannah sei ebenso süchtig nach Kirschen wie nach Zigaretten gewesen; sie habe die Kirschen vermutlich samt Kern und Stiel verschlungen, so Stern. Und doch bleibt ihre größte geteilte Leidenschaft der philosophische Dialog.* Erotische Gefühle oder gar Liebe hebt Hannah sich für Andere auf. Auf dieser sachlich-romantischen Grundlage heiraten Hannah Arendt und Günther Stern noch im selben Jahr. Hannah Arendt wird später resümieren, sie habe geheiratet „ganz gleich wen, ohne zu lieben.“ Und das tat sie angeblich mit vollem Bewusstsein; sei es aus Trotz; sei es, um die Trennung von Heidegger zu überwinden; sei es, um der Lebens-und Liebesgeschichte der jüdischen Saloniére und Schriftstellerin Rahel Varnhagen nachzueifern.

Zu dieser Zeit arbeitet Hannah Arendt nämlich an einer Studie über Rahel Varnhagen, ergründet deren Liebesleben und überträgt ihre biografische Arbeit vermutlich auf ihre eigene Situation. So schreibt Arendt, Rahel habe sich ihren romantischen Amouren abgewandt und Karl August Varnhagen geheiratet, um lieber „einsam mit einem zweiten zusammenzuleben, als an (…) platonischer Bewunderung zugrunde zu gehen.“ Parallel dazu habe ihre erste große Liebe Heidegger sie „zum Leben erweckt“ und Günther Stern ihr, vermutlich, das Leben gerettet. Denn Stern zeigt sich seiner Ehefrau gegenüber nicht nur intellektuell ebenbürtig. Er ist gutmütig, bewundernd, und: er liebt sie. Der hingebungsvolle Ehemann erhofft sich eine romantische Lebens- und Denkgemeinschaft mit dieser rebellischen Frau, doch bereits 1933 scheiden sich die philosophischen und politischen Interessen der Eheleute. Günther Stern hat in der Zwischenzeit einen neuen Nachnamen. Er nennt sich jetzt Günter Anders und verkehrt im Umfeld von Bertholt Brecht. Hannah Arendt schreibt weiterhin an ihrem Rahel-Werk und hat erste Kontakte zu Zionisten aufgenommen.

1937 lassen sich Arendt und Anders scheiden. Nach dem Reichstagsbrand flieht er nach Paris. Sie bleibt vorerst in Berlin und riskiert eine Verhaftung durch die Gestapo. Nach ihrer Freilassung folgt sie Günther Anders ins Exil nach Paris. Dort verfällt Hannah Arendt bald dem herrschsüchtigen Heinrich Blücher, den sie 1940 heiraten wird. Ihr zweiter Ehemann stellt für Arendt gewissermaßen einen gesunden Kompromiss zwischen dem erotischen Machtspiel mit Heidegger und dem Vernunftbündnis mit Günther Anders da. Blücher wird ihr Heimat, Leidenschaft, Eigenständigkeit und Liebe. Mit ihm und ihrer Mutter immigriert Hannah Arendt 1941 in die USA.

*Einen lebhaften Eindruck der philosophischen Dialoge zwischen Günther Stern und Hannah Arendt verschafft das Buch: „Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt“ (Günther Anders, C.H.Beck, 2011).

Was danach geschah:

Ab Oktober 1941: Arendt schreibt für das deutsch-jüdische Magazin ‚Aufbau‘ in New York.

1949-1952: Arbeit als Geschäftsführerin für die Organisation zur Rettung und Pflege jüdischen Kulturguts (JCR).

1949/50: Deutschland-Reise im Auftrag der JCR. Kontaktaufnahme zu Heidegger und Karl Jaspers.

04.12.1975: Hannah Arendt stirbt in New York an einem Herzinfarkt. Sie wird neben ihrem Mann Heinrich Blücher begraben.

Ein unvergesslicher Satz: „Eine große Liebe lässt sich durch die Realität des Geliebten nicht stören.“

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, September 2015)

Teil 7: Walter Benjamin (1892-1940)

Von 1915 bis 1940 Lebensfreund von Gershom Scholem

WalterBenjaminEine merkwürdige Art zu denken und zu sprechen hatte er, dazu eine „chinesische Höflichkeit“. Tief und melancholisch sei er gewesen. Seinen innigsten Wünschen sei er nicht nachgekommen; zum Beispiel denen, ein großes systemisches Werk zu schreiben und nach der Machtergreifung Hitlers 1933 noch Palästina auszureisen. Stattdessen habe er sich in Paris in Arbeit verstrickt, sich in die marxistische Theorie verrannt, mit Sprach- und Geschichtsphilosophie herumgeschlagen und darüber sein metaphysisches Talent vernachlässigt.

So äußert sich der jüdische Religionshistoriker Gershom Scholem 1941 in Gedenken an den jüngst verstorbenen Lebensfreund Walter Benjamin.

1923 war Scholem nach Palästina ausgewandert. Er wollte seine Geburtsstadt Berlin für immer hinter sich lassen, weil er als aktiver Zionist in Deutschland keine Zukunft mehr sah. Mit seiner Abreise kehrte Scholem auch der achtjährigen Freundschaft zu Walter Benjamin den Rücken zu. Die Intensität ihrer Auseinandersetzungen hatte ihn schon Jahre zuvor immer wieder in die Verzweiflung getrieben, er hatte Benjamin insgeheim einen unmenschlichen Irren und einen ungerechten Menschen genannt. Trotz Differenzen bestand zwischen Scholem und Benjamin bis zu dessen tragischem Tod 1940 ein reger Briefwechsel. Nach seinem Tod veröffentlichte Scholem mit Theodor Adorno Benjamins Werke. Er sammelte Lebensspuren, um seinen rätselhaften Freund vielleicht etwas besser verstehen zu können.

Walter Benjamin wurde in eine bürgerliche Familie assimilierter Juden geboren. Er wuchs um neunzehnhundert in der Delbrückstraße 23 in Berlin-Grunewald auf. Nach seiner Schulzeit in Thüringen, studierte Benjamin 1912 Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin. 1915 lernte er den fünf Jahre jüngeren Mathematikstudenten Gershom Scholem kennen. Nachdem er am Vortag ein Referat Scholems über das „Wesen des Geschichtsprozesses“ gehört hatte, sprach Benjamin ihn in der Universitätsbibliothek auf dessen Inhalt an. In den folgenden Tagen trafen die Studenten sich zu Kaffee oder Schach, um über geistige Ahnen, Sozialismus, Judentum und Kant zu sprechen.

Benjamin entwickelte über die Jahre der Freundschaft eine eigene Geschichtsauffassung, die besonders in der „Berliner Chronik“ von 1932 zum Ausdruck kommt. Nach dem ersten Weltkrieg, nachdem seine Eltern im Zuge der Inflation ihr Vermögen verloren hatten, nachdem Benjamins Habilitation gescheitert war und er sich aus Geldmangel gedrängt fühlte, als Publizist zu arbeiten, fragte er sich nach der Notwendigkeit von Geschichtsereignissen. Inwieweit hatten sich Stillstand und Zerfall, von denen er sein Leben dominiert sah, bereits in seiner Kindheit angedeutet?

In der „Berliner Chronik“ prüfte der Schriftsteller Wert und Wesen seiner eigenen Kindheitserinnerungen, und versuchte seine Vergangenheit vor dem Zerfall zu bewahren, indem er Momente herausgriff und von allen Seiten betrachtete.

Benjamin hatte die Theorie, dass sich die Fragmente der Zukunft bereits in der Vergangenheit widerspiegelten wie in einem Kristall, und dass man mit seinem gegenwärtigen Geist die Splitter der Zukunft aus der Vergangenheit heraus exerzieren könne. Dieses künstliche Herausnehmen aus dem Geschichtsprozess bedeutete für Benjamin – unter Einfluss des historischen Materialismus Karl Marx‘ – die Rettung des Moments vor seiner Umdeutung und Instrumentalisierung als Ware und gleichzeitig einen Stillstand.

Benjamin ließ sich zu Beginn des zweiten Weltkriegs nach Frankreich ins Exil treiben, in Paris schrieb er jahrelang an seinem „Passagen“-Werk und verlief sich in den Spuren, die er verfolgte. Sein eigenes Leben, seine Kindheit aber auch seine jüdische Herkunft, behandelte Benjamin als Materialsammlung.

Vielleicht stieß er bei seiner Rückschau auf keine Rechtfertigungen für eine Utopie. Vielleicht war sein Selbstmord die logische Konsequenz seines Skeptizismus. Sicher wurde Benjamin aber auch von den Umständen in den Tod getrieben. Von Südfrankreich aus wollte er die spanische Grenze passieren, doch die Grenztruppen hielten ihn tagelang hin. Es gibt aber auch Berichte von Freunden, die bestätigen, dass der Schriftsteller zuvor bereits des öfteren Suizidgedanken geäußert habe. Unzweifelhaft bleibt: Walter Benjamin starb am 26.09.1940 durch eine Überdosis Morphintabletten in Portbou und verweigerte sich der Lebensrettung.

Mehr zu Walter Benjamin gibt es nachzulesen in: „Begegnungen mit Benjamin“ (Erdmut Wizisla, Lehmstedt Verlag, 2015).

Was danach geschah:

1969: Hannah Arendt gibt in den USA den Sammelband „Illuminations. Walter Benjamin: Essays and Reflections“ heraus und macht Benjamin posthum international bekannt.

1970-1989: Adorno und Scholem geben die gesammelten Werke von Walter Benjamin heraus und bewirken in Westdeutschland einen regelrechten Benjamin-Kult.

Ein unvergesslicher Satz: „Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.“

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, Juli 2015)


Teil 6: Lou Andreas Salomé (1861-1937)

Von 1882 bis 1887 Friedrich Nietzsches Denkschwester


louEin 37-jähriger, kränklicher Philosoph – nach eigenen Angaben zu 4/5 blind – steht im Sommer 1882 am Anhalter Bahnhof und hält Ausschau nach einer großen, schlanken, blonden Frau in einem langen schwarzen Kleid. Bei dem Wartenden handelt es sich um Friedrich Nietzsche, bei der Erwarteten um Lou Salomé. Die 21-Jährige hat ihrem liebeskranken Verehrer vor wenigen Tagen in einem Brief mitgeteilt, dass sie heute von Hamburg nach Stibbe reisen wird, in das Elternhaus ihres gemeinsamen Freundes Paul Rée. Nietzsche schlug daraufhin vor, sich in Berlin zu treffen, das läge schließlich auf dem Weg. Obwohl Lou von diesem Vorschlag nicht angetan war, ist Nietzsche trotzdem nach Berlin gereist. Ihre Ankunftszeit schätzte er auf 11 Uhr, seit 10.30 Uhr ist er am Bahnhof. Die Chancen einer Zusammenkunft stehen also gut; denkt er.

Was er nicht weiß: Lou hat vor Stunden den Nachtzug aus Hamburg genommen. Sie dürfte bereits in Stettin eingetroffen sein, als Nietzsche noch voller Hoffnung ist, seine Geliebte Russin in Berlin wiederzusehen, ja, sie vielleicht sogar davon zu überzeugen, in sein Elternhaus nach Naumburg zu kommen.

Zwischen ihm und seinem Freund Rée ist in den letzten drei Monaten ein regelrechter Wettstreit ausgebrochen. Im Februar hatte Paul Rée ihm schriftlich von „der Russin“ derart vorgeschwärmt, dass Nietzsche beschloss, sie ungesehen zu heiraten; aber nur für zwei Jahre. Rées Begeisterung hinsichtlich dieser vermessenen Ankündigung hielt sich in Grenzen. Er hatte im Gegensatz zu Nietzsche bereits das Vergnügen, Lou während nächtlicher Spaziergänge durch Rom näher kennen zu lernen; er wusste also zu diesem Zeitpunkt nicht nur schon um ihren bestechenden Intellekt und ihre Schönheit, sondern auch um ihren Eigenwillen und ihre Kompromisslosigkeit. Letztere Charakterzüge bekam Rée zu spüren, als er bei Lou’s Mutter um ihre Hand anhielt. In Lou’s Augen war der Antrag ein Verrat ihrer Freundschaft. Nach all‘ dem, was sie sich anvertraut hatten? Rée wiederum war von der Abweisung zu tiefst gekränkt. Seit wann freuen sich Frauen nicht mehr, wenn ein vermögender, gebildeter Mann um ihre Hand anhält, noch dazu ein so enger Vertrauter? Nach all den Tortouren, die dieser aufopfernde Mann für die zähe Lou schon auf sich genommen hat, gäbe er sie, einmal für sich gewonnen, sicher nicht bereits nach zwei Jahren wieder frei. Aber sein verwegener Freund Nietzsche wird schon noch seine eigenen Erfahrungen machen …

Wie erwartet stolperte der gute Freund Nietzsche bereits beim ersten Kennenlernen ins Fettnäpfchen der femme fatale. Seine lange zuvor ausgedachten ersten Worte: „Von welchen Sternen sind wir hier einander zugefallen?“, kamen bei Lou überhaupt nicht gut an. Lou sah über seine unpassende Begrüßung großzügig hinweg, denn sie freute sich zu sehr darauf, den geheimnisvollen Philosophen endlich einmal persönlich kennenzulernen.

Sowohl Nietzsche als auch Lou merkten schnell, wie sehr sich ihre philosophischen Ansichten und Interessen überschnitten. Lou wird bald von einer „tiefverwandten Natur“ berichten, Nietzsche wird Lou sein „Geschwistergehirn“ nennen. Aber deswegen gleich heiraten? Nietzsche hielt einen Antrag für die einzig mögliche Konsequenz, doch Lou ließ ihn wissen, wie sie im Allgemeinen zu einer Eheschließung steht. Sie schreibt an Nietzsche: „Verlobte sind einander eine rosige Vermuthung u. Ehegatten eine bittere Erkenntnis.“ Nietzsche gefiel diese Einstellung. Sie hatte ja ganz recht: viel wertvoller als eine Ehe ist die Freundschaft. Beide sind sich einig: „Die Freundschaft zwischen verschiedenen Geschlechtern ist eine adlige Neigung.“ Doch ebenso befinden sowohl Lou, als auch Nietzsche: „Der Einklang im Gefühle zweier Personen kann die Ursache der Liebe oder auch die Folge der Liebe sein.“

Hochzeit hin oder her, in den kommenden Wochen galt es herauszufinden, ob es sich bei der Zuneigung, die sie zueinander verspürten, um Liebe handelte. Lou schlug erst einmal vor, mit Nietzsche und Rée in eine schöne Wohnung in Wien oder Paris zu ziehen; mit getrennten Schlafzimmern und Blumen auf dem Tisch. Dass es zu Rivalitäten zwischen Rée und Nietzsche kam, ist zu erahnen. Rée ist Lou während der vielen Gespräche und Reisen ein sehr guter Freund geworden. Sie nennt ihn ihre Heimat, ihr Haus, sie ist sein „Schneckle“. Bei Nietzsche hingegen handelt es sich nicht um eine derart ruhige, treue Seele. Ein guter Freund ist er nicht. Aber taugt er vielleicht zum Liebhaber?

Als Nietzsche von Naumburg nach Berlin reiste, um seine Lou am Anhalter Bahnhof abzufangen, muss er fest entschlossen gewesen sein, ihr seine Qualitäten als unentbehrlicher Weggefährte zu beweisen. Doch wieder einmal meinte es das Schicksal nicht gut mit ihm und sie verpassten sich.

Jetzt spaziert er allein durch den Grunewald und bemitleidet sich selbst. Womöglich fühlt er zum ersten Mal deutlich, dass diese Frau seinen Untergang bedeuten könnte. Im zweiten Teil von „Also sprach Zaratustra“ schließt er: „Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode.“

Was kurz danach geschah:

1882: Lou wird im August mit Paul Rée nach Berlin in eine Zweier-WG ziehen, während Nietzsche, von Wut zerfressen, einsam durch Italien irrt.

1885: Den Schmerz über den Verlust seiner Denkschwester wird Nietzsche in sein Hauptwerk „Also sprach Zaratustra“ einfließen lassen. Zeitgleich zur Veröffentlichung des letzten Teils wird Lou Salomé unter dem Namen Henri Lou „Im Kampf um Gott“ veröffentlichen und weitaus mehr Erfolg haben.

1887: Lou wird den Orientalisten Carl Friedrich Andreas heiraten, nachdem dieser sich einen Tag vor der Verlobung während einer Auseinandersetzung mit seiner Zukünftigen ein Taschenmesser ins Herz gerammt und knapp überlebt hat. Andreas wird in den folgenden Jahren noch über so manche Liebelei seiner Frau hinwegsehen müssen. Einen Geliebten, den 15 Jahre jüngeren Rainer Maria Rilke, muss er gar als Mitbewohner akzeptieren. Zudem wird es auf Wunsch Lou’s niemals zu ehelichem Sex kommen.

Mehr zu Lou Andreas-Salomé gibt es nachzulesen in: „Der bittere Funke Ich“ (Kerstin Decker, Ullstein, 2010).

Im Juli erwacht zum Leben: Walter Benjamin. Der 1892 in Charlottenburg geborene Philosoph und Literaturkritiker, hielt seine Kindheitserinnerungen in der Chronik „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ fest.

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, Mai 2015)

Teil 5: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)

Von 1818-1831 Lehrtätigkeit an der Berliner Universität

1831_Schlesinger_Philosoph_Georg_Friedrich_Wilhelm_Hegel_anagoriaEin guter Redner soll Hegel nicht gewesen sein. Als „grämlich“, „mit niedergebücktem Kopf“ und einer „Naivität des überwältigendsten Ernstes“ wurde er von einem seiner Schüler beschrieben. Trotz Missbehaglichkeit teilte jener Schüler jedoch mit vielen anderen eine große Bewunderung für diesen kauzigen Professor mit dem schwäbischen Akzent.

Hegel beabsichtigte, seinen Zuhörern nichts geringeres näher bringen, als den absoluten Geist in der Natur, die Weltseele, und damit ein philosophisches System, das Religion, Geschichte, Politik und Sittenlehre gleichermaßen mit einbezieht. Aufbauend auf Kants Metaphysik, diese selbstsagend verbessernd und vollendend, zieht das Hegelsche System seine Erkenntnisse aus der Lebenswirklichkeit und nicht, wie bei Kant, dem abstrakten Denken; bezieht sich nicht auf das Ding-an-Sich, sondern dem Wesen der Dinge, denn dieses sei Manifestation des Absoluten.

Das Wesen der Dinge sei nach Hegel dialektisch. Als Beispiel nannte der Philosoph die Liebe, die ein Moment der Entfremdung und des Selbstbewusstseins, der Entfernung und Annäherung gleichermaßen enthielte. Ebenso sei auch das Absolute dialektisch und im ständigen Fluss.

Was Hegels Zuhörer zu lernen hofften, war also nichts Geringeres als das Leben und einen adäquaten Umgang mit der Wirklichkeit. In Zeiten des politischen Umbruchs sehnten sie sich nach neuen Werten. Nach siebenjähriger Besetzung Preußens durch Napoleons Truppen, war es 1819 zu den Karlsbader Beschlüssen gekommen. In deren Folge wurden im Zuge einer sogenannten Demagogenverfolgung zahlreiche Intellektuelle Opfer von Zensur und Inhaftierung. Hegel vermochte den Eindruck zu vermitteln, in dieser zerrütteten Zeit ein zukunftsweisendes philosophisches Konzept aufzubringen.

Hegel soll ein leidenschaftlicher Gesellschaftsmensch gewesen sein, der öffentlich Religionskritik übte, sich stets zu politischen Ereignissen äußerte, und weder die Auseinandersetzung mit seinen Kollegen, noch Weinlokale und Frauen scheute. Es kursierte gar das Gerücht von einem Streit zwischen Hegel und Schleiermacher, der in einer Messerattacke mündete. Die beiden Philosophen sollen noch am gleichen Tag versucht haben, den Redereien der Leute über den unangenehmen Vorfall mit einem gemeinsamen Besuch im Vergnügungspark entgegenzuwirken.

Hegels Leidenschaft mag ihm zu großen Teilen zu seinem Erfolg verholfen haben. Dass Hegel jedoch überhaupt die Möglichkeit erhielt, 1818 den äußerst gut bezahlten Lehrstuhl in Berlin zu erhalten, war seiner positiven Einstellung zur konstitutionellen Monarchie zu verdanken, die er in einem Aufsatz über die Landesstände des Königreichs Württemberg zum Ausdruck brachte. Im Einvernehmen des Kulturministers und Friedrich Wilhelm III., sollte Hegel zum preußischen Staatsphilosophen avancieren. Hegels unsteter Geist mag dafür verantwortlich gewesen sein, dass er der ihm zugeteilten Aufgabe nicht vollends genügte. So wurde der Philosoph selbst Opfer der Zensur, in politischen Affären wurde ihm widersprüchliches Verhalten nachgesagt.

Eine andere Anekdote möchte zeigen, dass Hegel in letzter Konsequenz sogar von seiner Leidenschaft in den Tod getrieben wurde. Uneinig sind sich Biografen nämlich darüber, ob Hegel an der asiatischen Cholera oder einem Magenleiden starb. Der Biograph Althaus mutmaßte, dass eine Aktion des Hegelianers Eduard Gans Hegel dermaßen in Wallungen gebracht haben muss, dass er zwei Tage später verstarb. Der ehemalige Schüler hielt eine Vorlesung über Hegels Philosophie, versprach, diese in einfacheren Worten zu erklären, fertigte jedoch für seine Hörerschaft einen Aushang an, in dem er dazu aufrief, Hegels Vorlesung trotzdem zu besuchen (auch, wenn sie so unverständlich ist). Hegel soll diesen Aushang gesehen und sich von ihm dermaßen gekränkt gefühlt haben, dass er das Ende seiner akademischen Laufbahn nur noch mit seinem Ableben besiegeln konnte.

Ein unsterblicher Satz:

Alle großen weltgeschichtlichen Vorgänge ereignen sich zweimal: Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce!

Im März erwacht zum Leben: Lou Andreas-Salomé – russisch-deutsche Schriftstellerin und Psychoanalytikerin, die enge Kontakte zu Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud hegte.

(Veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, März 2015)

Teil 4: Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Von 1820-1821 erste Lehrtätigkeit an der Berliner Universität

Porträt des Philosphen Arthur Schopenhauer, 1852Arthur Schopenhauer kam von seiner ersten Vorlesung nach Hause. Dort wartete sein geliebter Pudel auf ihn, den er Atma (altindisch: Einzelseele) nannte. Schon beim Eintreten war der Philosoph in Rage, feuerte seine Tasche auf einen Stuhl und fluchte vor sich hin:

Und wieder einmal gilt mir dieser Reinfall als der beste Beweis für die Dummheit der Menschen. Diese armen, verängstigten Kreaturen; diese Banausen. Lassen sich von diesem Unsinnschmierer Hegel Afterweisheiten aufbinden und haben keinerlei Sinn für die wahrhaft großen Denker.“

Atma blickte aufmerksam zu seinem Besitzer, als verstünde er genau, wovon er sprach. Schopenhauer beugte sich zu seinem Pudel und tätschelte ihm sanft den Kopf: „Ach, Atma, mein mysteriöser Gefährte. Dein ehrliches Gesicht lässt mich die Falschheit der Menschen einen Augenblick vergessen.“

Schopenhauer rüstete seinen Hund für einen längeren Spaziergang. Nach diesem enttäuschenden Tag brauchte er das. Es verärgerte ihn, dass bei seiner ersten Veranstaltung gerade einmal fünf Studenten anwesend waren. War er zu übermütig gewesen? Schließlich hatte er seine Vorlesung absichtlich parallel zu der von Friedrich Hegel gelegt. Dieser war in den letzten Jahren zum Popstar des Deutschen Idealismus avanciert und scharrte beizeiten an die zweihundert Zuhörer um sich. Schopenhauer hingegen war ein unbekannter Privatdozent, sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ war zwar bereits im Vorjahr erschienen, hatte jedoch bis dato kaum Aufmerksamkeit erregt. Etwas übermütig auch der Titel seiner Vorlesung: „Gesammte Philosophie, d.i. die Lehre vom Wesen der Welt und dem menschlichen Geiste“.

Nachdem sich im weiteren Verlauf der Vorlesung seine Anhängerschaft nicht vermehrt haben würde, verließ Schopenhauer im kommenden Jahr Berlin, um sich auf eine längere Reise nach Italien zu begeben. Der Verlust seiner Dozentenstelle und eine längere Schreibpause, bereiteten Schopenhauer einige Geldsorgen. 1819 war das Handelshaus in Danzig zusammengebrochen, in dem er einen Teil seines Vermögens deponiert hatte. Außerdem bezahlte er einen seiner Wutausbrüche gegenüber der Näherin Caroline Louise Marqet mit jahrelangen Rentenzahlungen. Der Philosoph hatte die 47-Jährige – von ihrem Frauengeschwätz derart in Rage gebracht – so unsanft aus der Wohnung geworfen, dass sie stürzte und bis an ihr Lebensende Schäden davontrug. Auch mit seinem Verleger F.A.Brockhaus hatte er sich überworfen. In einem Brief schrieb er diesem, er habe mit den „Konversationslexikons-Autoren und ähnlich schlechten Skriblern“ nichts gemein und wolle dementsprechend anders behandelt werden, sah er sich doch nicht nur als Philosoph, sondern als Schriftsteller und Bewahrer der deutschen Sprache. Seine schriftstellerische Herangehensweise an philosophische Probleme wurde zu Lebzeiten ebenso wenig geschätzt, wie seine wegweisende anthropologisch fundierte Metaphysik.

Schopenhauer war einer der ersten Philosophen, der nach dem Idealismus nicht mehr einen Schwerpunkt auf den Geist und das Denken, sondern auf die Leiblichkeit legte. Seine Reflexionen über die natürlichen Triebe und die Sexualität setzten einen Grundstein für die Psychoanalyse des 20.Jahrhundert. Außerdem thematisierte er das Tier als gleichgestelltes Wesen. Besonders Hunde waren für Schopenhauer ein Mysterium und die Urkraft des Lebendigen. Das Mitleid zu Mensch und Tier postulierte Schopenhauer als eines von drei Möglichkeiten, sich vom ewigen, destruktiven Kreislauf der Welt zu entlasten.

Für Schopenhauer war der Wille das Urprinzip der Welt, Ursache für Leid und Lust und Anstoß für das ewige Pendel zwischen Hoffnung und Langeweile. Um an seinen Sehnsüchten nicht einzugehen, müsse der Mensch laut Schopenhauer eine asketische Einstellung zum Leben entwickeln, die er entweder durch Mitleid, durch Kunst oder durch Resignation erreichen könne. Die Freiheit der Menschen sah er nicht im Fortschritt und in der Produktivität, sondern in der Fähigkeit zur Entsagung und Verneinung.

Schopenhauer selbst gelang es zu Lebzeiten nicht, seine Gedanken praktisch umzusetzen. All zu oft gab er sich seinen Affekten hin, und wandte sich mit verbaler und physischer Gewalt gegen Frauen, Akademiker und Schriftsteller. Seine seligen Pudel schienen ihm eine der wenigen Harmoniequellen.

Was kurz danach geschah:

1825: Schopenhauer kehrte für Lehrtätigkeiten erneut nach Berlin zurück. Seine Vorlesungen blieben weiterhin schlecht besucht.

1831: Schopenhauer gab seine Wohnung in der Dorotheenstraße endgültig auf, als in Berlin eine Choleraepidemie ausbrach. Bis zu seinem Tod 1860 wohnte Schopenhauer in Frankfurt am Main.

Ein unsterblicher Satz:

Jede Lebensgeschichte ist eine Leidensgeschichte.“

Im März erwacht zum Leben: Georg Wilhelm Friedrich Hegel – deutscher Idealist, zeitweiliger Zimmergenosse von Hölderlin und Schelling und Anhänger der konstitutionellen Monarchie Preußens.

 

Bahn-Verdrossenheit (Aus der Bahn 11/12)

Rollei

Ich sitze in der U8 und beobachte zwei vermeintlich zivile Kontrolleure bei den letzten Vorbereitungen vor ihrem Jagdzug. Das wird jetzt die vierte Kontrolle in sieben Tagen.

Die BVG-Sheriffs sind leicht zu erkennen. Sie stehen meist an der Tür, Männer wie Schränke, und lassen ihren blasierten Blick durch den Wagon schweifen; Mienen wie sieben Tage schlechtes Wetter. Nur manchmal lachen sie, aber auf diese herablassende Art. Erst ein herablassendes Lachen und dann stecken sie tuschelnd ihre Köpfe zusammen. Ich denke: Sie schließen Wetten ab, welche der Reisenden sich ohne Fahrschein befördern lassen. So versüßen sie sich ihren Arbeitstag. Was sollte es bei dieser Arbeit sonst zu lachen geben? Warum sonst diese sadistische Freude, andere Menschen auflaufen zu lassen? Bestimmt wetten sie unter einander um Geld. So können sie sich zu ihrem mäßigen Gehalt noch ein paar Groschen mehr ergaunern. Schwarzgeld durch Schwarzfahrer.

Vor zehn Jahren war es ja noch so, dass ein BVG-Kontrolleur einen Arbeitstag frei und voll bezahlt bekam, wenn er sechzehn Schwarzfahrer an einem Tag überführt hat – und mit seiner Entlassung rechnen konnte, wenn er wiederholt weniger als zwölf zur Kasse bat. Wäre das auch heute noch der Fall, könnte man als Fahrschein-Besitzer ja glatt ein schlechtes Gewissen bekommen.

Ähnliche Abgründe lassen sich bei den U-Bahnfahrern vermuten. Schlechte Bezahlung? Dünne Luft? Zu wenig Pausen? Oder was veranlasst unsere Steuermänner dazu, all zu oft mit solch einer Miesepetrigkeit ihre Ansagen zu machen?

Neulich in der U2 musste der Fahrer bei jeder Station die Endhaltestelle selbst ins Mikro sprechen: „U2 nach Ruhleben – zurück bleiben, bitte!“. Bei jeder Station schien seine Laune weiter zu sinken, obwohl man schon bei der ersten Station dachte, tiefer geht es gar nicht. Am Ende klang es so, als wollte er uns alle fressen. Der böse Wolf am Steuer. 

Wenn die S-Bahn mit ihren ständigen Ausfällen dafür verantwortlich ist, dass Berlin als chaotische Stadt verrufen ist, dann gab das miesepetrige BVG-Personal wahrscheinlich Anlass dazu, das Märchen vom unfreundlichen Berliner in die Welt zu setzen. Stimmt ja auch. Das Chaos und die schlechte Laune innerhalb der öffentlichen Verkehrsbetriebe färbt sicher auf die Fahrgäste ab. Die Berliner Verkehrsmittel sind sozusagen Katalysatoren unserer Verdrossenheit.

Aber wie sich nun richtig verhalten? Auf lange Sicht ist dann wohl das Beste, gar nicht mehr Bahn zu fahren. Als Schreiber hieße das, sich einen anderen Ort für seine Sozialstudien zu suchen. Auf dem Fahrrad lässt sich schließlich auch gut über die Aggressionen von anderen Verkehrsteilnehmern philosophieren. Mit etwas Übung ließe sich vielleicht der potenzielle Aggressionsgrad an der Automarke, der Fahrradfarbe oder der Frisur abschätzen …

Endlich erklingt die warnende Melodie der U-Bahntüren. Für die BVG-Sheriffs ist es ein Schießsignal. Jetzt können sie ihren Colt ziehen. Wie viele Mitfahrer sind jetzt noch nicht auf sie aufmerksam geworden? Ich wette mit mir selbst. Der Tourist dort hinten, das Mädchen, das in ihre Musik vertieft ist, der schlafende Streuner … Meist sind die Kontrolleure dann schon mit ein oder zwei Schwarzfahrern zufrieden und der Rest geht ihnen durch die Lappen. Sollten sie mich mal einstellen! Aber ich bin ja kein miesepetriger Schrank …