Oft schreibe ich auf längeren Reisen über das Ankommen und Loslassen. Die meisten Texte sind autofiktional mit einem Hang zum Surrealen und Grotesken. Philosophische Reflexionen bleiben nicht aus. Politisches Interesse: Erinnerungskultur, Sterben, desolates Bildungssystem, Feminismus, neue Utopien.
- Textproben
- 1.1 Träume in Senegal
- 1.2 Schnabeltasse
- 1.3 Bilder in Vietnam
- 1.4 Berliner Herbst verfallen
1.1 Träume in Senegal
Begué war das erste Wort, das ich auf Wolof lernte. Es bedeutet Glück. Auf Mandinka sagt man „dekat“. Tonton hat es mir beigebracht, dann hat er mich geküsst. Der Fernseher läuft unentwegt, Hip Hop-Videos, Fußball oder politische Sendungen zu den Wahlen, die morgen stattfinden. Die meisten sind gegen Abdoulaye Wade, auch die Familie, bei der ich lebe. Gestern war eine Wahlkampagne direkt vor unserem Haus. Nach dem Kuss fragte mich Tonton, ob ich Muslimin werde und nach Senegal ziehe. (…)
Nach dem Fußballspiel von „Casasport“ im Taxi sah der Fahrer, dass einem Jungen ein Beutel vom Fahrrad fiel. Weil der Junge seine Rufe nicht hörte, hielt der Fahrer an und nahm den Beutel, um ihn anschließend dem Jungen, den er anscheinend namentlich und mit Anschrift kannte, nach Hause zu bringen.
Trotzdem bin ich heute so traurig.
Oft fühle ich mich von den Leuten hier wie eine Spielpuppe behandelt und kurz darauf bin ich ihnen wieder dankbar. Meine Laune und Meinung wechselt pro Tag ungefähr viermal. Ich beschreibe den heutigen Tag: Ich wache um 9 Uhr auf. Es steht schon wie jeden Morgen Kekilli Bab und Fondé auf dem Tisch. Nach dem Frühstück lerne ich, Ataya zu servieren. Ich kaufe bei Soliebola (ich weiß den Namen immer noch nicht wirklich) ein Baguette und eine Art Fischstäbchen. Danach trinke ich zwei Ataya, man sitzt auf dem Hof, drei Stunden vergehen.
Ich helfe sehr wenig bei der Anj- und Rer-Zubereitung, indem ich den Reis wasche und die Kartoffeln klein schneide. Nach dem Anj um 14 Uhr liege ich eine halbe Stunde zur Erholung in Bettys Zimmer. Um 15 Uhr spiele ich eine Stunde Djembe.
Um 16 Uhr brechen wir auf zu dem Fußballspiel. Zuvor erklärt mir Pabico, dass es die Mütze auf dem Markt nicht gibt, die ich für meinen Cousin besorgen wollte. Er kenne jedoch jemanden, der solche Mützen mache. Bevor ich irgendwas entscheiden kann, befiehlt er Soliebola, auf dem Markt Wolle in rot, grün, gelb und schwarz zu kaufen. Ich möchte eigentlich keine Mütze in den Afrika-Farben. Andere Farben gäbe es auf dem Markt nicht, sagt Pabico. Ich solle ihm vertrauen, Soliebola das Geld geben und die Wolle anschließend zu ihm bringen. Er würde dann mit mir zu der Frau gehen.
Das Fußballspiel ist in der dreißigsten Minute, als sich ein Mann neben mich auf ein Taschentuch setzt. Die Steine seien zu heiß. Er bietet mir ein Taschentuch an. Ich lehne lächelnd ab. Sein Freund gibt mir trotzdem sein Taschentuch. Ich bedanke mich.
Unmittelbar vor unserer Nase spielt eine 12-köpfige Tanz- und Trommelgruppe. Um mit mir zu flirten, muss der Mann neben mir so nahe an mich heranrücken, dass sich unsere Arme berühren. Er beginnt einen Smalltalk, bei dem ich nichts anderes sage als „Oui“ und „Je ne comprend pas á cause de la musique“. Trotzdem hört er nicht auf und fragt, ob ich ihn anrufen werde, wenn er mir seine Nummer gibt. Ich sage „Nein“.
Nach dem Spiel lege ich mich kurz hin, als Soliebola mit dem Stoff kommt. Wir gehen zu Pabico, er ist nicht da. Vor dem Rer kommt Bety zu mir. Sie habe mit Pabico gesprochen. Er habe gesagt, ich werde am Samstag vor meiner Abfahrt eine Feier veranstalten.
„Il faut inviter des gens.“
Pabico sagte mir tatsächlich, dass es zu meinem Abschied eine Party geben würde. Man werde ein kleines Konzert geben und Freunde einladen. So habe man das bisher immer getan. Neu ist allerdings die Information, dass ich alles organisieren muss. Ich soll Essen einkaufen, Getränke und die Musiker bezahlen für eine Feier, die ich nie bestellt habe. In bestimmendem Ton sagt Betty: „Il faut demander Pabico.“
(…)
(veröffentlicht in “Fernwärme”, Anthologie 2021)
1.2 Schnabeltasse
Dreimal um den Karpfenteich des Pflegeheims gefahren, Fahrrad geparkt, Hände desinfiziert, für fünfzig Cent einen überraschend guten Kaffee aus dem Automaten gezogen, in den Fahrstuhl gestiegen, vorbei an der Morgenröte, der Station für Komapatienten, hoch hinauf in die Abenddämmerung, wo das Vergessen wohnt.
Frau L. rollt den Korridor auf und ab, wir grüßen uns. Wer ich sei. Das könne man ja nicht wissen. Sie wohne hier eigentlich nicht, sie sei hier nur lang spaziert und wie sie hier raus käme. Frau L. zu ihrem Zimmer geführt, Fenster geöffnet, frisches Hemd gereicht. Dass ihre Tochter morgen zu Besuch käme. Dass diese doch bereits gestorben sei.
Wie die Existenz der eigenen Kinder, aber nicht die Farbe des ersten Badeanzugs vergessen werden kann. Wie Zeit in Räumen gesucht wird und Joghurt in Schränken versteckt.
Tür geöffnet und nach dem Befinden gefragt. Wie es heute gehe. Gelächelt dabei. Du seist um drei Uhr morgens aufgewacht und nicht mehr eingeschlafen, weil dein Körper geschmerzt und der schwere Kopf dir auf die Atmung gedrückt habe, weil er wollte, dass du nachdenkst. Also dachtest du nach, aber worüber, das wusstest du nicht. Rauch habe sich in deinem Zimmer ausgebreitet, du in dessen Mitte ein vertrockneter Erdbeerstrauch, animalisch keuchend und knurrend, bis du dich in einem modrig riechenden, unwirklich grün leuchtendem Wald wiedergefunden hättest. Dein Rollstuhl in Moos versunken.
Als Schwester Susanne um 7:30 Uhr mit dem Frühstück gekommen sei, habest du ihr von dem Wald erzählt, den du im Frühjahr 1945 mit deiner Mutter und deiner jüngeren Schwester durchquert hattest. Du seist gerade acht Jahre alt gewesen, an die dreißig Kilometer müssen eure kleinen Beinchen gelaufen sein, als die Entscheidung fiel, die Nacht im Freien zu verbringen. Eingewickelt in Seidenstoff, den deine Mutter über den Krieg gerettet hatte, versank dein Köpfchen in ihrer großen, weichen Brust und du schliefst augenblicklich ein. (…)
(unveröffentlicht)
1.3 Bilder in Vietnam
Kleine Aale werden lebendig in den heißen Topf geworfen und springen wieder heraus. Sie zappeln auf dem Boden und dem Tisch. Jemand hat sich das Gesicht am herausspritzenden Wasser verbrannt. Niemand möchte die Fische probieren. Ich schneide mit den Stäbchen ein Stück Fisch aus der Mitte heraus. Es schmeckt bitter.
Hier bin ich fünf Stunden älter als dort. Meine Stimme am Telefon kommt aus der Zukunft. Unterwegs habe ich einen Teil von mir abgeworfen, um rechtzeitig hier zu sein. In die Tastatur weinend hole ich den verlorenen Teil zurück in die Gegenwart. Ich lasse mir vom Mopedlieferdienst einen Döner liefern, beiße ab und denke: Heimweh. Ich denke: Heimweh, jetzt ess ich dich auf.
Das Essen vom Lieferdienst kommt in Plastiktüten. Eine Tüte für den Salat, eine Tüte für die Suppe, eine Tüte Sojasoße, fein verschlossen mit Haushaltsgummis. Meine Suppe schwimmt auf dem Linoleumboden des Apartments.
Nicht stehen bleiben, nicht rennen, niemals die Richtung wechseln; nur so lässt sich der endlose Strom von Mopedfahrern bezwingen. Ich trete einen Schritt auf die Straße, ein Mopedfahrer hupt, ich trete zurück. Im Schatten zweier Vietnamesinnen überquert geduckt eine verängstigte Deutsche die Straße.
Ich spreche Wörter in meine Übersetzungs-App, um die Aussprache zu üben. Ich möchte „danke“ sagen, cảm ơn, aber die App versteht „Akne-Fisch“, „der Mund“ und „berühren“. Statt „Hallo“ (chào em) sage ich „mein Haferbrei“ und „häng mich auf“. Aus „ohne Zucker“ (không đường) wird „kann nicht“ und „Prinzessin“.
Angespülte Kugelfische, Styropor und halbvolle Tablettenverpackungen. Zwei junge Mädchen machen eine Fotosession bis zu den Knien im Wasser. Daneben reitet ein dicker Junge auf einer Riesenschildkröte, denke ich, auf einem langen Stück Treibholz, seh ich, enttäuscht, sag ich keinem, denk ich, schreib ich später alles auf.
Ich suche Safari und finde Plastik. Ich zahle für alles den dreifachen Preis.
Eine Verkäuferin begrüßt mich am Eingang. Eine zweite schaltet die Musik ein. Zwei andere unterbrechen ihre Unterhaltung und starren mich an. Mit gebeugtem Rücken schiebe ich mich geräuschlos an der Kleiderauslage vorbei. Ich bin ein schüchternes Zirkuspferd, das keine Hosen in seiner Größe findet.
In meiner kleinen Gasse singen die Vögel in ihren Käfigen, nachts heulen Hunde, manchmal jault eine Katze und am frühen Morgen schreit ein Hahn. Es gibt ein Kosmetikstudio, einen Waschsalon und eine Reparaturwerkstatt für Mopedsitze. Sonntags sitzen Kinder in einer Schulklasse und lernen. Während der Woche finden dort Klavierstunden statt. Die Bewohner starren mich an, wenn ich in die Gasse einbiege. Wenn ich sie grüße, dann lächeln einige und andere schauen weg.
Viel zu lange gebeugt durch die Stadt gelaufen, um den Größenunterschied auszugleichen. Jetzt Yoga. Die Frauen können ihren Rücken verbiegen, die Männer machen Handstand. Ich kann drei Eimer Wasser in sechzig Minuten schwitzen. Good job, sagt die Yoga-Frau.
Heute ist der Geburtstag von Ho Chi Minh. Aus dem klimatisierten Bus beobachte ich einen Marathon durch den fließenden Verkehr. Ich bin in Can Dao auf einer zweitägigen Mekong Delta-Tour, ein Kanadier sagt: Die Vietnamesen auf ihren Mopeds sind wie die Bienen geschäftig. Man kann was lernen über Voraussicht, sagt er, wie ein Instinkt, denk ich. Es gibt Verkehrsregeln und es gibt Naturgesetze. Auf 100.000 Fahrzeuge kommen da fünf und hier fünfzig Tote. Aber das google ich erst später.
Die Arbeitsabläufe der vietnamesischen Bienen sind fein justiert. Bringt ein Eindringling die Abläufe aus dem Gleichgewicht, macht sich sofort ein ganzes Bienenvolk an die Reparaturarbeiten. Meine Tarnung ist aufgeflogen: Ich bin ein Pferd im Bienenkostüm.
Ich lasse mich mit dem Moped zur Arbeit fahren. Manche Mopedfahrer singen. Ich arbeite viel. Sie arbeiten viel. Wir konjugieren uns mit der Arbeit. Wir arbeiten uns in die Grammatik ein. Eine Koreanerin singt in der Pause Opern aus ihrer Heimat. Eine phonetische Übung wird zu rhythmisch-melodischem Sprechgesang. Ich denke „schön“ und „Revolution“, und nur noch ab und zu an zu Hause.
(veröffentlicht 2021, in „Risse 46“)
1.4 Berliner Herbst verfallen
Berlin hängt mir heute Abend an den Fersen wie zähes Kaugummi. Bei jedem Schritt habe ich das Gefühl, ich ziehe etwas hinter mir her oder etwas zieht mich zurück.
Es ist einer dieser Tage, an dem man aus der Ringbahn gar nicht mehr aussteigen möchte, weil man, einmal den vorbestimmten Kreis der Schienen verlassen, zwangsläufig feststellen muss, wie sehr das eigene Leben aus der Bahn geraten ist. Man stolpert, läuft im Zickzack, vor und zurück, bleibt stehen, starrt in ein Schaufenster und denkt gar nichts dabei.
Die Schönen tänzeln rechts und links an mir vorbei wie Kinderseelen, die nichts Böses ahnen, irgendeinem Ziel entgegen, welches sich mir nicht erschließt. Ich klappe meinen Mantelkragen hoch. Der Wind beißt sich in jeden Winkel. Auf der Dänenstraße kommen mir die ersten Verwirrten im Schlängellauf entgegen. Ich überlege, ob es der Wind ist, der sie hin und her wirft, oder doch der Alkohol. Man schafft es immer irgendwie auszuweichen …
Mich von der Straßendisko auf der Schönhauser Allee immer weiter entfernend, erreiche ich schließlich die Behmbrücke. Im Wedding verändert sich sofort das Licht. In Prenzlauer Berg floh ich vor dem grellen Licht. Hier überkommt mich die Angst, von einem Häuserschatten verschluckt zu werden. Prenzlauer Berg ist monochrom, der Wedding verstört mit seinen Kontrasten.
Ich stelle mich vor die bunten Medienplakate in der Jülicherstraße und versuche mir zu merken, welchen Film ich heute, welches Konzert ich morgen und welches Theaterstück ich übermorgen verpassen werde. Doch mein Blick heftet sich an die dreckigen Sozialwohnungen hinter der Plakatwand, die von der untergehenden Sonne in rötliches Licht getaucht werden. Ich schaue über die Plakate und rudere hin und her zwischen romantischem Verfall und verfallener Romantik.
Die Kastanien fallen von den Bäumen, vor meine Füße. Sie wissen, warum ich so traurig bin. Ich schieße eine vor mich her und lass sie meinen Weg bestimmen. Wenig später in einer kuschelige Eckkneipe angelangt, massieren The Cure mein Gehirn. Nach dem ersten Schluck Bier beruhigt sich der Nystagmus meiner Augen. Aufgeregte Diskussionen stranden am Tresen, angespült als unverständliches Gemurmel. Mein Herz schlägt wieder die gesunden 120 BPM.
(veröffentlicht 2014, in den „Prenzlberger Ansichten“, Aus der Reihe „Aus der Bahn“)