Lyrik

Meine Gedichte entstehen in Bahnen, Flugzeugen oder am Strand.

ODEG heute

Mit der Frau, die mit ihrer Tabaktüte telefoniert,

Olga Grjasnowa, die mich zum Lachen bringt

und einer Email von Doris Knecht

 

Mit meiner Mutter, die morgen ein Jahr älter ist,

Meinem Opa, der ewig in meiner Manteltasche wohnt

Und einem Hund mit Augenproblem

 

 

ODEG 2

Fuchs in abgemähtem Gras

E-Bike-Paradies

Sonne hinter Wolken wie

Cellulitehaut, wie alte Oberschenkel

Der Himmel heute

 

Und das Reh in braungelb

Und ein Fluß reißt alte Oberschenkel frei

In Berlin die Sonne dann weißgrau

(2022)

Prosa

Oft schreibe ich auf längeren Reisen über das Ankommen und Loslassen. Die meisten Texte sind autofiktional mit einem Hang zum Surrealen und Grotesken. Philosophische Reflexionen bleiben nicht aus. Politisches Interesse: Erinnerungskultur, Sterben, desolates Bildungssystem, Feminismus, neue Utopien.

  1. Textproben
    • 1.1 Träume in Senegal
    • 1.2 Schnabeltasse
    • 1.3 Bilder in Vietnam
    • 1.4 Berliner Herbst verfallen

1.1 Träume in Senegal

Begué war das erste Wort, das ich auf Wolof lernte. Es bedeutet Glück. Auf Mandinka sagt man „dekat“. Tonton hat es mir beigebracht, dann hat er mich geküsst. Der Fernseher läuft unentwegt, Hip Hop-Videos, Fußball oder politische Sendungen zu den Wahlen, die morgen stattfinden. Die meisten sind gegen Abdoulaye Wade, auch die Familie, bei der ich lebe. Gestern war eine Wahlkampagne direkt vor unserem Haus. Nach dem Kuss fragte mich Tonton, ob ich Muslimin werde und nach Senegal ziehe. (…) 

Nach dem Fußballspiel von „Casasport“ im Taxi sah der Fahrer, dass einem Jungen ein Beutel vom Fahrrad fiel. Weil der Junge seine Rufe nicht hörte, hielt der Fahrer an und nahm den Beutel, um ihn anschließend dem Jungen, den er anscheinend namentlich und mit Anschrift kannte, nach Hause zu bringen.

Trotzdem bin ich heute so traurig.

Oft fühle ich mich von den Leuten hier wie eine Spielpuppe behandelt und kurz darauf bin ich ihnen wieder dankbar. Meine Laune und Meinung wechselt pro Tag ungefähr viermal. Ich beschreibe den heutigen Tag: Ich wache um 9 Uhr auf. Es steht schon wie jeden Morgen Kekilli Bab und Fondé auf dem Tisch. Nach dem Frühstück lerne ich, Ataya zu servieren. Ich kaufe bei Soliebola (ich weiß den Namen immer noch nicht wirklich) ein Baguette und eine Art Fischstäbchen. Danach trinke ich zwei Ataya, man sitzt auf dem Hof, drei Stunden vergehen.

Ich helfe sehr wenig bei der Anj- und Rer-Zubereitung, indem ich den Reis wasche und die Kartoffeln klein schneide. Nach dem Anj um 14 Uhr liege ich eine halbe Stunde zur Erholung in Bettys Zimmer. Um 15 Uhr spiele ich eine Stunde Djembe.

Um 16 Uhr brechen wir auf zu dem Fußballspiel. Zuvor erklärt mir Pabico, dass es die Mütze auf dem Markt nicht gibt, die ich für meinen Cousin besorgen wollte. Er kenne jedoch jemanden, der solche Mützen mache. Bevor ich irgendwas entscheiden kann, befiehlt er Soliebola, auf dem Markt Wolle in rot, grün, gelb und schwarz zu kaufen. Ich möchte eigentlich keine Mütze in den Afrika-Farben. Andere Farben gäbe es auf dem Markt nicht, sagt Pabico. Ich solle ihm vertrauen, Soliebola das Geld geben und die Wolle anschließend zu ihm bringen. Er würde dann mit mir zu der Frau gehen. 

Das Fußballspiel ist in der dreißigsten Minute, als sich ein Mann neben mich auf ein Taschentuch setzt. Die Steine seien zu heiß. Er bietet mir ein Taschentuch an. Ich lehne lächelnd ab. Sein Freund gibt mir trotzdem sein Taschentuch. Ich bedanke mich. 

Unmittelbar vor unserer Nase spielt eine 12-köpfige Tanz- und Trommelgruppe. Um mit mir zu flirten, muss der Mann neben mir so nahe an mich heranrücken, dass sich unsere Arme berühren. Er beginnt einen Smalltalk, bei dem ich nichts anderes sage als „Oui“ und „Je ne comprend pas á cause de la musique“. Trotzdem hört er nicht auf und fragt, ob ich ihn anrufen werde, wenn er mir seine Nummer gibt. Ich sage „Nein“.

Nach dem Spiel lege ich mich kurz hin, als Soliebola mit dem Stoff kommt. Wir gehen zu Pabico, er ist nicht da. Vor dem Rer kommt Bety zu mir. Sie habe mit Pabico gesprochen. Er habe gesagt, ich werde am Samstag vor meiner Abfahrt eine Feier veranstalten. 

„Il faut inviter des gens.“

Pabico sagte mir tatsächlich, dass es zu meinem Abschied eine Party geben würde. Man werde ein kleines Konzert geben und Freunde einladen. So habe man das bisher immer getan. Neu ist allerdings die Information, dass ich alles organisieren muss. Ich soll Essen einkaufen, Getränke und die Musiker bezahlen für eine Feier, die ich nie bestellt habe. In bestimmendem Ton sagt Betty: „Il faut demander Pabico.“ 

 (…) 

(veröffentlicht in “Fernwärme”, Anthologie 2021)

1.2 Schnabeltasse

Dreimal um den Karpfenteich des Pflegeheims gefahren, Fahrrad geparkt, Hände desinfiziert, für fünfzig Cent einen überraschend guten Kaffee aus dem Automaten gezogen, in den Fahrstuhl gestiegen, vorbei an der Morgenröte, der Station für Komapatienten, hoch hinauf in die Abenddämmerung, wo das Vergessen wohnt. 

Frau L. rollt den Korridor auf und ab, wir grüßen uns. Wer ich sei. Das könne man ja nicht wissen. Sie wohne hier eigentlich nicht, sie sei hier nur lang spaziert und wie sie hier raus käme. Frau L. zu ihrem Zimmer geführt, Fenster geöffnet, frisches Hemd gereicht. Dass ihre Tochter morgen zu Besuch käme. Dass diese doch bereits gestorben sei. 

Wie die Existenz der eigenen Kinder, aber nicht die Farbe des ersten Badeanzugs vergessen werden kann. Wie Zeit in Räumen gesucht wird und Joghurt in Schränken versteckt. 

Tür geöffnet und nach dem Befinden gefragt. Wie es heute gehe. Gelächelt dabei. Du seist um drei Uhr morgens aufgewacht und nicht mehr eingeschlafen, weil dein Körper geschmerzt und der schwere Kopf dir auf die Atmung gedrückt habe, weil er wollte, dass du nachdenkst. Also dachtest du nach, aber worüber, das wusstest du nicht. Rauch habe sich in deinem Zimmer ausgebreitet, du in dessen Mitte ein vertrockneter Erdbeerstrauch, animalisch keuchend und knurrend, bis du dich in einem modrig riechenden, unwirklich grün leuchtendem Wald wiedergefunden hättest. Dein Rollstuhl in Moos versunken. 

Als Schwester Susanne um 7:30 Uhr mit dem Frühstück gekommen sei, habest du ihr von dem Wald erzählt, den du im Frühjahr 1945 mit deiner Mutter und deiner jüngeren Schwester durchquert hattest. Du seist gerade acht Jahre alt gewesen, an die dreißig Kilometer müssen eure kleinen Beinchen gelaufen sein, als die Entscheidung fiel, die Nacht im Freien zu verbringen. Eingewickelt in Seidenstoff, den deine Mutter über den Krieg gerettet hatte, versank dein Köpfchen in ihrer großen, weichen Brust und du schliefst augenblicklich ein.  (…) 

(unveröffentlicht)

1.3 Bilder in Vietnam

Kleine Aale werden lebendig in den heißen Topf geworfen und springen wieder heraus. Sie zappeln auf dem Boden und dem Tisch. Jemand hat sich das Gesicht am herausspritzenden Wasser verbrannt. Niemand möchte die Fische probieren. Ich schneide mit den Stäbchen ein Stück Fisch aus der Mitte heraus. Es schmeckt bitter.

Hier bin ich fünf Stunden älter als dort. Meine Stimme am Telefon kommt aus der Zukunft. Unterwegs habe ich einen Teil von mir abgeworfen, um rechtzeitig hier zu sein. In die Tastatur weinend hole ich den verlorenen Teil zurück in die Gegenwart. Ich lasse mir vom Mopedlieferdienst einen Döner liefern, beiße ab und denke: Heimweh. Ich denke: Heimweh, jetzt ess ich dich auf.

Das Essen vom Lieferdienst kommt in Plastiktüten. Eine Tüte für den Salat, eine Tüte für die Suppe, eine Tüte Sojasoße, fein verschlossen mit Haushaltsgummis. Meine Suppe schwimmt auf dem Linoleumboden des Apartments. 

Nicht stehen bleiben, nicht rennen, niemals die Richtung wechseln; nur so lässt sich der endlose Strom von Mopedfahrern bezwingen. Ich trete einen Schritt auf die Straße, ein Mopedfahrer hupt, ich trete zurück. Im Schatten zweier Vietnamesinnen überquert geduckt eine verängstigte Deutsche die Straße.

Ich spreche Wörter in meine Übersetzungs-App, um die Aussprache zu üben. Ich möchte „danke“ sagen, cảm ơn, aber die App versteht „Akne-Fisch“, „der Mund“ und „berühren“. Statt „Hallo“ (chào em) sage ich „mein Haferbrei“ und „häng mich auf“. Aus „ohne Zucker“ (không đường) wird „kann nicht“ und „Prinzessin“. 

Angespülte Kugelfische, Styropor und halbvolle Tablettenverpackungen. Zwei junge Mädchen machen eine Fotosession bis zu den Knien im Wasser. Daneben reitet ein dicker Junge auf einer Riesenschildkröte, denke ich, auf einem langen Stück Treibholz, seh ich, enttäuscht, sag ich keinem, denk ich, schreib ich später alles auf.

Ich suche Safari und finde Plastik. Ich zahle für alles den dreifachen Preis. 

Eine Verkäuferin begrüßt mich am Eingang. Eine zweite schaltet die Musik ein. Zwei andere unterbrechen ihre Unterhaltung und starren mich an. Mit gebeugtem Rücken schiebe ich mich geräuschlos an der Kleiderauslage vorbei. Ich bin ein schüchternes Zirkuspferd, das keine Hosen in seiner Größe findet.

In meiner kleinen Gasse singen die Vögel in ihren Käfigen, nachts heulen Hunde, manchmal jault eine Katze und am frühen Morgen schreit ein Hahn. Es gibt ein Kosmetikstudio, einen Waschsalon und eine Reparaturwerkstatt für Mopedsitze. Sonntags sitzen Kinder in einer Schulklasse und lernen. Während der Woche finden dort Klavierstunden statt. Die Bewohner starren mich an, wenn ich in die Gasse einbiege. Wenn ich sie grüße, dann lächeln einige und andere schauen weg.


Viel zu lange gebeugt durch die Stadt gelaufen, um den Größenunterschied auszugleichen. Jetzt Yoga. Die Frauen können ihren Rücken verbiegen, die Männer machen Handstand. Ich kann drei Eimer Wasser in sechzig Minuten schwitzen. Good job, sagt die Yoga-Frau.

Heute ist der Geburtstag von Ho Chi Minh. Aus dem klimatisierten Bus beobachte ich einen Marathon durch den fließenden Verkehr. Ich bin in Can Dao auf einer zweitägigen Mekong Delta-Tour, ein Kanadier sagt: Die Vietnamesen auf ihren Mopeds sind wie die Bienen geschäftig. Man kann was lernen über Voraussicht, sagt er, wie ein Instinkt, denk ich. Es gibt Verkehrsregeln und es gibt Naturgesetze. Auf 100.000 Fahrzeuge kommen da fünf und hier fünfzig Tote. Aber das google ich erst später.

Die Arbeitsabläufe der vietnamesischen Bienen sind fein justiert. Bringt ein Eindringling die Abläufe aus dem Gleichgewicht, macht sich sofort ein ganzes Bienenvolk an die Reparaturarbeiten. Meine Tarnung ist aufgeflogen: Ich bin ein Pferd im Bienenkostüm.

Ich lasse mich mit dem Moped zur Arbeit fahren. Manche Mopedfahrer singen. Ich arbeite viel. Sie arbeiten viel. Wir konjugieren uns mit der Arbeit. Wir arbeiten uns in die Grammatik ein. Eine Koreanerin singt in der Pause Opern aus ihrer Heimat. Eine phonetische Übung wird zu rhythmisch-melodischem Sprechgesang. Ich denke „schön“ und „Revolution“, und nur noch ab und zu an zu Hause.

(veröffentlicht 2021, in „Risse 46“)

1.4 Berliner Herbst verfallen

2014-09-02 19.27.12

Berlin hängt mir heute Abend an den Fersen wie zähes Kaugummi. Bei jedem Schritt habe ich das Gefühl, ich ziehe etwas hinter mir her oder etwas zieht mich zurück.

Es ist einer dieser Tage, an dem man aus der Ringbahn gar nicht mehr aussteigen möchte, weil man, einmal den vorbestimmten Kreis der Schienen verlassen, zwangsläufig feststellen muss, wie sehr das eigene Leben aus der Bahn geraten ist. Man stolpert, läuft im Zickzack, vor und zurück, bleibt stehen, starrt in ein Schaufenster und denkt gar nichts dabei.

Die Schönen tänzeln rechts und links an mir vorbei wie Kinderseelen, die nichts Böses ahnen, irgendeinem Ziel entgegen, welches sich mir nicht erschließt. Ich klappe meinen Mantelkragen hoch. Der Wind beißt sich in jeden Winkel. Auf der Dänenstraße kommen mir die ersten Verwirrten im Schlängellauf entgegen. Ich überlege, ob es der Wind ist, der sie hin und her wirft, oder doch der Alkohol. Man schafft es immer irgendwie auszuweichen …

Mich von der Straßendisko auf der Schönhauser Allee immer weiter entfernend, erreiche ich schließlich die Behmbrücke. Im Wedding verändert sich sofort das Licht. In Prenzlauer Berg floh ich vor dem grellen Licht. Hier überkommt mich die Angst, von einem Häuserschatten verschluckt zu werden. Prenzlauer Berg ist monochrom, der Wedding verstört mit seinen Kontrasten.

Ich stelle mich vor die bunten Medienplakate in der Jülicherstraße und versuche mir zu merken, welchen Film ich heute, welches Konzert ich morgen und welches Theaterstück ich übermorgen verpassen werde. Doch mein Blick heftet sich an die dreckigen Sozialwohnungen hinter der Plakatwand, die von der untergehenden Sonne in rötliches Licht getaucht werden. Ich schaue über die Plakate und rudere hin und her zwischen romantischem Verfall und verfallener Romantik.

Die Kastanien fallen von den Bäumen, vor meine Füße. Sie wissen, warum ich so traurig bin. Ich schieße eine vor mich her und lass sie meinen Weg bestimmen. Wenig später in einer kuschelige Eckkneipe angelangt, massieren The Cure mein Gehirn. Nach dem ersten Schluck Bier beruhigt sich der Nystagmus meiner Augen. Aufgeregte Diskussionen stranden am Tresen, angespült als unverständliches Gemurmel. Mein Herz schlägt wieder die gesunden 120 BPM.

(veröffentlicht 2014, in den „Prenzlberger Ansichten“, Aus der Reihe „Aus der Bahn“)

Reportage

Ein Ausflug ich den Journalismus.

18.06.2014, 07:19 Uhr

Soziales Gärtnern im Brennpunkt Wedding

Das „Himmelbeet“ an der Ruheplatzstraße gedeiht seit Gründung vor einem Jahr prächtig. Schon soll expandiert werden. Nur die Zahl der Migrant*innen ist noch steigerungsfähig. Unsere Autorin, selbst Helferin bei dem Projekt, zieht Bilanz. JOHANNA SAILERDas interkulturelle "Himmelbeet" an der Ruheplatzstraße

Das interkulturelle „Himmelbeet“ an der Ruheplatzstraße FOTO: PROMO

Ein Geschäft mit der Sehnsucht nach wohltuendem Grün. Eine atmende Lunge im dreckigen, tosenden Berlin. Ein urbaner Garten im Brennpunkt Weddings zwischen Leopold- und Nauener Platz. Viel Geld lässt sich damit nicht verdienen. Aber viele Bonuspunkte auf dem Karmakonto. Denn die Weddinger haben Sehnsucht nach einem Ort, an dem die Uhren etwas langsamer Ticken, die  schäumenden Wellen des Großstadtmeeres abflachen und die meterhohen Grenzwälle in den Köpfen der Bewohner für einen Moment vergessen sind.

Das ist jedenfalls die Erfahrung von Hannah Lisa Linsmaier, der Gründerin des interkulturellen Gartenprojekts „Himmelbeet“. Die gebürtige Münchnerin wohnt nun schon mehr als zehn Jahre in Berlin. Es war ihre eigene Sehnsucht, eine ausgemachte Lücke, die sie bemerkte und schließen wollte. Sie wollte dem Verfall etwas entgegensetzen, das eine Heilkraft entfaltet; eine leblose Baulücke mit Schönheit füllen. Die Vision vom Himmelbeet war geboren.

Im letzten Jahr hat sie einen Garten für Alle an der Ruheplatzstraße etabliert, ein Projekt, das von den meisten Bewohnern dankbar angenommen worden ist. 150 Pachtbeete finden sich hier, in Form mobiler Hochbeete und 50 weitere Gemeinschaftsbeete, in denen sich auch die Anwohner austoben und engagieren können und deren Ertrag im Gartencafé verkauft wird. Doch der relativ kleinen Fläche steht eine noch viel größere Nachfrage gegenüber.

Doppelt so hoch sei die, sagt Hannah Lisa Linsmaier. „Eigentlich bräuchten wir bereits jetzt ein zweites Himmelbeet, um den Anfragen der Bewohner nachzukommen.

Bereits seit Anfang des Jahres sucht sie nach Möglichkeiten zu expandieren, bislang ohne Erfolg.

Ich frage sie, ob sie mit der Entwicklung des Himmelbeetes zufrieden sei, ob sich ihre, ja doch recht hohen, Erwartungen erfüllt hätten. „Das Team des Himmelbeets ist jung, ambitioniert und überarbeitet.“, antwortet Linsmaier und auch ich muss lachen. Denn seit kurzem bin auch ich im Team der freiwilligen Helfer, und die drei Attribute geben gut wieder, was ich hier selbst erlebt habe.

Ein wenig Heimat

„Wir wollen nicht hip sein, sondern den Menschen ein wenig Heimat bieten.“, sagt sie. „Wir wussten, dass sich unser Vorhaben nicht von heute auf morgen verwirklichen lässt. Deshalb sind wir es langsam angegangen – und wurden bisher auch nicht enttäuscht. Die positiven Reaktionen der Weddinger sind der beste Lohn für die viele Arbeit, die wir im letzten Jahr in das Projekt gesteckt haben.“

Natürlich sei vorher nicht absehbar gewesen, wieviel Arbeit es wirklich bedeutet, eine idealistische Idee wie die vom Himmelbeet umzusetzen. Die Suche nach Firmen und Stiftungen, die das Projekt unterstützen, nehme viel Zeit ein. Gerade kürzlich wurde eine Mitarbeiterin für das Fundraising eingestellt und mittlerweile ist das Himmelbeet eine gemeinnützige GmbH.

Im Moment werden Gelder benötigt, um die geforderten 12.000 Euro an die BSR zahlen zu können, damit der Garten endlich an das Berliner Wassersystem angeschlossen wird. Außerdem wird ein großes Café gebaut, und als nächstes sind Komposttoiletten geplant. Ein Kampf um jeden Euro.

Was bei weiteren Vorhaben hilft, ist die Zusammenarbeit mit anderen Kiez-Projekten. Das Himmelbeet ist unter anderem mit Gangway und dem Kinder- und Jugendladen Max14 vernetzt, mit dem Runden Tisch am Leopoldplatz und dem Händlerfrühstück. Cafés in der Umgebung werden mit Produkten aus dem Garten beliefert. Und fast täglich sind Schulklassen im Garten. Denn 10-15 Pachtbeete gehen momentan an soziale Einrichtungen, auch eine Behindertenwerkstatt sei Pächter. „Wir wollen Vernetzung, statt irgendetwas neu zu erfinden.“, sagt Hannah Lisa Linsmaier

Aufregend und mitunter nicht leicht gestaltet sich die Arbeit in einem interkulturellen Projekt. So gab es während meiner Einsatzzeit zum Beispiel eine Gruppe türkischer Männer im Himmelbeet, die frische Salatköpfe kaufen wollten, jedoch nicht zum angegebenen Preis. Sie wollten feilschen und  es war schwer, ihnen klarzumachen, dass das Himmelbeet kein Marktplatz ist.

Die Himmelbeet-Gründerin erzählt auch von zwei türkischen Frauen, die beim Anblick des Gartens in Tränen ausgebrochen seien, weil sie sich an ihren eigenen Garten in der Heimat erinnert fühlten. Die slowenischen Nachbarsjungen seien regelmäßige Gäste.

Doch im Allgemeinen ist es noch mühsam, die gesamte Nachbarschaft für das Projekt zu begeistern. Und das stellt das Himmelbeet unter einen ganz besonderen Druck. Denn hinsichtlich der Fördergeldakquise muss das gemeinnützige Unternehmen zählen, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund, Kinder, Rentner und Touristen ihren Weg in den Garten finden. Nach der ersten Zählaktion im Jahr 2013 war von Juni bis Oktober die Strichliste in der Zielgruppen-Spalte „Touristen“ am längsten. Rund 25 % der Besucher waren Berlin-Gäste, aber nur 7,6 % Menschen mit Migrationshintergrund, 4,2 % Kinder- und Jugendliche und 3,3 % Rentner.

Besucherzahl soll verdoppelt werden

Die Gesamtbesucherzahl von 12.000 aus der Hauptsaison 2013 könnte sich in diesem Jahr verdoppeln, schätzt Linsmaier, und die verschiedenen Zielgruppen einen höheren Anteil ausmachen. Schließlich ist das Himmelbeet erst anderthalb Jahre alt und hat in dieser kurzen Zeit Struktur und Netzwerk erheblich ausgebaut.

Anfangs bestand das Team beispielsweise aus jungen Studenten, die in Deutschland aufgewachsen sind. Mittlerweile gebe es Freiwillige aus Spanien, England und Tschechien, eine Fundraising-Mitarbeiterin aus Indien und eine FÖJ’lerin aus der Türkei. Viele Workshops in diesem Jahr werden sich besonders an Frauen mit Migrationshintergrund und Kinder und Jugendliche richten, um die Anteile in diese Gruppe zu erhöhen. So ist für den 6.September ein Heilkräuterworkshop mit Güliz Avci geplant und auch einen Kochworkshop speziell für Kinder soll es geben, sobald das neue Café fertiggestellt ist.

Aber kulturelle Grenzen zu überwinden, gesteht Hannah Lisa Linsmaier, sei schon schwierig. „Arabische Frauen schlendern nicht.“, erklärt sie. Sie hätten ihre festen Wege, man müsse sie woanders abholen. Deshalb werden die LSK-Frauenworkshops mit Kinderbetreuung in arabischen und türkischen Frauenkulturvereinen und Zeitungen beworben. Auch um türkisch- und arabisch sprechende Mitarbeiter bemühe sie sich.

Zu den Tangoabenden, die jeden zweiten und vierten Donnerstag im Monat im Garten stattfinden, kommt nun ein Kleinkunstabend mit offener Bühne, auf der die Weddinger ihre kreative Seite zeigen können. Der erste Kleinkunstabend findet am 30.Juli statt. Und wer im Garten mithelfen möchte, ist am Donnerstagnachmittag und Samstagvormittag willkommen. Alle weiteren Veranstaltungen sind auf himmelbeet.com nachzulesen.

Die Autorin Johanna Sailer hat Philosophie studiert und schreibt derzeit an ihrem ersten Roman. Ihr Blog heißt johannasailer.com .

Dieser Artikel erschien im Wedding-Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

(https://www.tagesspiegel.de/berlin/interkulturelles-gartenprojekt-himmelbeet-soziales-gaertnern-im-brennpunkt-weddings/10061396.html)

1000 Serpentinen Angst (Olivia Wenzel)

Die Oberarmnarbe, die in der DDR Geborene enttarnt und sie einst gegen Pocken schützen sollte, ihnen ihre Zugehörigkeit schon qua Geburt einimpfte, die Flüssigkeit, die ihre Identität zusammenhält … Ich schließe das Buch. Da ich in Kleidung eingepackt in der Straßenbahn sitze (Alexanderplatz), kann ich jetzt nicht nachschauen, aber ich spüre die Narbe am linken Arm. Ist sie bei jedem links? Ich bin Linkshänderin, aufgrund sozialen Drucks dann irgendwie beidhändig geworden. Die Frage: Links oder rechts sofort zweideutig. Links gesinnt, aber handwise zwanghaft auf rechts getrimmt, heimlich mit links den Pinsel haltend.

Der Automat am Bahnsteig, in dem jemand wohnt. Nicht sicher, wer. Und wo genau? Dieser hier hat ein leeres Fach. Da ist noch Platz für dich neben der Capri-Sun.

Olivia Wenzel hatte bestimmt auch Capri-Sun in ihrem Lunchpaket im Ferienlager oder in der Brotbüchse. Was heißt denn Lunchpaket?, hat sie vielleicht auch ihre Betreuer gefragt und die wusstens nicht. Und wo liegt Capri?

Sowieso hieß das früher Caprisonne und oft war das Loch schlecht vorgestanzt. Ich hab das Buch jedenfalls verschlungen wie Omas Wiener Würstchen mit Ketchup.

Laufen (Isabel Bogdan)

WIN_20200703_12_49_46_ProMeine Mutter hat es mir auf dem Flug in eine südeuropäische Stadt geborgt, kurz bevor Flüge in südeuropäische Städte verboten wurden, bevor ich in meinem Homeoffice saß, die Urlaubsfotos durchscrollte und dachte: Krass, das war kürzlich und das war eine andere Zeit, jetzt ist alles anders und dieser Urlaub war vielleicht das letzte Mal, dass -. Aber das ist ein anderes Thema, zu dem ich mich an dieser Stelle nicht weiter äußern möchte, nur ein bisschen habe ich mich dazu hinreißen lassen , weil es dazu gehört, weil jeder Eindruck, alles, was dieses Buch besser beschreiben kann, miteinbezogen werden muss.

Es war also Urlaub. Mutter zu nervös, um während des Flugs zu lesen, ich sie mit meinem Gequatsche nervend, sie mir das Buch in die Hand drückend, das sie bereits angefangen hatte. Es war „Laufen“ und es lief sehr gut, so gut, dass ich den Lesevorsprung meiner Mutter bis zur Landung fast aufgeholt hatte. Auf den ersten paar Duzent Seiten lachte ich viel, ich erinnere mich zu meiner Mutter sagend: „Das ist total mein Humor“, und sie sagen hörend: „Aber es ist auch hart.“ Wenig später wurde es so hart, dass ich es weglegen musste, Pausen machen, wie beim Laufen, es nicht übertreiben, ablenken mit lokalen Köstlichkeiten und versöhnlichen Aussichten unserer Ferienwohnung. Später dann, zurück zu Hause, hatte ich das Buch immernoch, meine Mutter hatte es bereits ausgelesen und mir überlassen, um damit fertig zu werden; wie die Protagonistin irgendwie damit fertig zu werden…

Dann begann die Zeit, in der wir nicht mehr reisen konnten, aber joggen war weiterhin erlaubt. Eine Freundin, Schwimmerin, begann zu laufen, weil sie nicht mehr schwimmen durfte und schrieb mir tagtäglich, wie gut es ihr tue, das Laufen. Ich gab ihr also „Laufen“. Ich weiß, das macht man eigentlich nicht; Bücher verborgen, die einem geborgt wurden, aber zu der Zeit waren auch die Buchläden geschlossen-. Nein, das ist eine schlechte Ausrede, es hätte Wege gegeben, das Buch erneut zu bestellen, vielleicht empfand ich es nur einfach als passend, genau dieses Buch weiterzugeben wie ein Allgemeingut, es sollte reisen und weil man joggend so schlecht lesen kann eben durch verschiedene Hände, Haushalte und Länder gehen – einfach nicht stillstehen.  Ich nahm es meiner Freundin deshalb nicht übel, als sie sagte, ihre Freundin lese jetzt das Buch. Vielleicht sehe ich dieses „Laufen“ nie wieder (deshalb ist es auf diesem Foto auch nicht zu sehen). Und wenn du willst, Mama, kaufe ich dir dann ein Neues oder das nächste von Isabel Bogdan, weil Isabel Bogdan mit uns viele neue Mitläuferinnen gewonnen hat!

Arbeit und Struktur (W. Herrndorf)

Arbeit und Struktur (W.Herrndorf)

Vor ein paar Jahren „In Plüschgewittern“, sofort Herrndorf-infiziert. Erzählerisch kein Meisterwerk aber die Stimmen und Bilder so vertraut, fast gespenstisch. Als sei ein Teil von mir in Buchform erschienen, zum Durchblättern und  Hinstellen. Dann „Bilder deiner großen Liebe“, „Tschick“, diesen Frühsommer „Sand“ und jetzt im Spätsommer endlich „Arbeit und Struktur“ in Buchform. Schon mal in Blogform begonnen, aber bei der Fülle der Seiten am Bildschirm kaum zu bewältigen, aufgegeben.

Herrndorfs Verweigerung und zunehmende Unfähigkeit „Ich“ zu sagen, ermutigt mich, persönlicher zu schreiben. Den stichpunktartigen Stil samt aneinander gereihter Aufzählungen übernommen. Guter Weg, sich die Seele vom Leib zu schreiben, ohne sich allzu prätentiös vorzukommen (im Wirklichkeit natürlich durch und durch prätentiös. Sonst wäre die Vorwegnahme des Urteils über die eigene Außenwirkung gar nicht möglich gewesen). Noch knapp 150 Seiten und zittrige Hände, muss immer wieder absetzen und mich ablenken. Kopfschuss in Sicht. Kein leichtes Thema …

Vernissage „Mentoring Kunst“ in Mestlin

Am 16.06. um 11 Uhr eröffnet die Ausstellung „Mentoring Kunst“ im Mestliner Kulturhaus. Mentorinnen und Mentees aus 2016/2017 werden aktuelle Werke ausstellen. Silke Peters, Bertram Reinecke und ich werden Lyrik und Prosa lesen.

Mestlin ist ein ehemaliges sozialistisches Musterdorf. Die Süddeutsche Zeitung nannte es in einem Artikel 2017 „Die Stalinallee der Dörfer“. Im Kulturhaus spielten schon „Silly“ und Karat“. Heute steht das Haus unter Denkmalschutz. Ein Verein aus hauptsächlich Zugezogenen begann 2008, das Kulturhaus wieder zu beleben (Quelle: NDR). Ich bin Teil dieser Wiederbelebung und ihr seid es hoffentlich auch! Kommt bitte zahlreich aus Ost und West!

Prosanova 2018

Vom 20.07-22.07.18 wird das zweite Prosanova Festival am Rechnitzberg (Mecklenburg-Vorpommern) stattfinden.

Im Sommer 2017 bescherten uns die Veranstalter das erste Prosanova-Hippie-Wochenende in der Mecklenburger Einöde. Deshalb freue ich mich, erneut mit meinen Texten Teil des Programms zu sein, das von Yogasessions und Kinderprogramm am Tage bis zu Mojitos und Disco in der Nacht reicht. Unten stehend ein Video mit Eindrücken vom Prosanova 2017. Wer hat Lust, dieses Jahr dabei zu sein?