Diogenes in der U2 (Aus der Bahn 12/12)

RolleiEs ist kurz vor Weihnachten. Irgendjemand hat vor zwei Wochen die Sonne abgeschaltet und vergessen sie wieder anzuschalten; Sparlampensaison. Durch das fehlende Vitamin D verliert der eine oder andere schon Zähne und Knochen, Herzen rattern wie zerkratzte Kiss-CDs, stockende Filmstreams oder Skype-Calls zwischen Berlin und New York. Die Grippe schleicht sich von hinten an und fährt mit ihren schlierigen Fingern über fröstelnde Rücken.

Ich steige in die U2 und beobachte, wie eine elegant gekleidete Gazelle auf High Heels der trötenden U-Bahn-Tür entgegen strakselt. Ein Mann mit Gehhilfe überholt sie und hält ihr die Tür auf. Das hätte ein wunderbarer Werbefilm für mehr Toleranz gegenüber Menschen mit Behinderung sein können, denke ich. „Wer ist hier behindert?“, hätte der Film geheißen.

Nächste Mal noch länger die Tür blockieren, dann komm‘ wa wenigstens alle zu spät!“, motzt der Bahnfahrer durch die Lautsprecher. Dann fahren wir los.

Als ich gerade sitze, falle ich auch schon in die nächste Szenerie. Mir gegenüber sitzt eine abgewetzte Gestalt mit Vollbart und drei vollgepackten Nettotüten. Sie trinkt Maternusbier. „Man, man man!“, sagt der Mann kopfschüttend und setzt zur Rede an. „Mal in den Spiegel gucken, statt immer nur aufs Handy und smsen.“ Ich schaue durch die Bahn. Außer mir scheint sich niemand angesprochen zu fühlen. „Scheiß Frisur, fettige Haare, dicke Wangen vom Pommesfressen, zu trockene Haut!“, sagt er zu mir. Durch seine Zahnlücken haucht er: „Frohes Fest!“. Zwei Sitzplätze von mir entfernt regt sich ein Mitreisender über die Äußerungen des Nettotüten-Cowboys auf: „Fass‘ dir mal an deine eigene Säufernase!“ Der Adressat murmelt sich in seinen grauen Vollbart, als wäre er wirklich getroffen und suche nun in seinem Gesichtshaar einen Rückzugsort.

Doch die vermeintliche Reue ist anscheinend nur von kurzer Dauer. Bei der nächsten Station zieht er neue Aufmerksamkeit auf sich, als er eine lesende Frau anspricht: „Wat lesen sie denn da Schönet?“ Ich vermute in seiner unschuldigen Frage das Präludium für ein bevorstehendes Paukengewitter, doch diesmal regnet es keine Beleidigungen. Stattdessen vertieft er sich mit der Frau in ein Gespräch über Literatur. Als an der nächsten Station ein Musiker einsteigt, wirft der Stadtstreicher ihm einige Geldstücke in den Spendenhut. Kritisch betrachte ich mein Spiegelbild im Fenster: Dicke Wangen vom Pommesfressen? Vorsatz für 2015: Weniger Pommes „fressen“ und SMS‘ in der U-Bahnschreiben; noch mehr gute Bücher lesen.

Bahn-Verdrossenheit (Aus der Bahn 11/12)

Rollei

Ich sitze in der U8 und beobachte zwei vermeintlich zivile Kontrolleure bei den letzten Vorbereitungen vor ihrem Jagdzug. Das wird jetzt die vierte Kontrolle in sieben Tagen.

Die BVG-Sheriffs sind leicht zu erkennen. Sie stehen meist an der Tür, Männer wie Schränke, und lassen ihren blasierten Blick durch den Wagon schweifen; Mienen wie sieben Tage schlechtes Wetter. Nur manchmal lachen sie, aber auf diese herablassende Art. Erst ein herablassendes Lachen und dann stecken sie tuschelnd ihre Köpfe zusammen. Ich denke: Sie schließen Wetten ab, welche der Reisenden sich ohne Fahrschein befördern lassen. So versüßen sie sich ihren Arbeitstag. Was sollte es bei dieser Arbeit sonst zu lachen geben? Warum sonst diese sadistische Freude, andere Menschen auflaufen zu lassen? Bestimmt wetten sie unter einander um Geld. So können sie sich zu ihrem mäßigen Gehalt noch ein paar Groschen mehr ergaunern. Schwarzgeld durch Schwarzfahrer.

Vor zehn Jahren war es ja noch so, dass ein BVG-Kontrolleur einen Arbeitstag frei und voll bezahlt bekam, wenn er sechzehn Schwarzfahrer an einem Tag überführt hat – und mit seiner Entlassung rechnen konnte, wenn er wiederholt weniger als zwölf zur Kasse bat. Wäre das auch heute noch der Fall, könnte man als Fahrschein-Besitzer ja glatt ein schlechtes Gewissen bekommen.

Ähnliche Abgründe lassen sich bei den U-Bahnfahrern vermuten. Schlechte Bezahlung? Dünne Luft? Zu wenig Pausen? Oder was veranlasst unsere Steuermänner dazu, all zu oft mit solch einer Miesepetrigkeit ihre Ansagen zu machen?

Neulich in der U2 musste der Fahrer bei jeder Station die Endhaltestelle selbst ins Mikro sprechen: „U2 nach Ruhleben – zurück bleiben, bitte!“. Bei jeder Station schien seine Laune weiter zu sinken, obwohl man schon bei der ersten Station dachte, tiefer geht es gar nicht. Am Ende klang es so, als wollte er uns alle fressen. Der böse Wolf am Steuer. 

Wenn die S-Bahn mit ihren ständigen Ausfällen dafür verantwortlich ist, dass Berlin als chaotische Stadt verrufen ist, dann gab das miesepetrige BVG-Personal wahrscheinlich Anlass dazu, das Märchen vom unfreundlichen Berliner in die Welt zu setzen. Stimmt ja auch. Das Chaos und die schlechte Laune innerhalb der öffentlichen Verkehrsbetriebe färbt sicher auf die Fahrgäste ab. Die Berliner Verkehrsmittel sind sozusagen Katalysatoren unserer Verdrossenheit.

Aber wie sich nun richtig verhalten? Auf lange Sicht ist dann wohl das Beste, gar nicht mehr Bahn zu fahren. Als Schreiber hieße das, sich einen anderen Ort für seine Sozialstudien zu suchen. Auf dem Fahrrad lässt sich schließlich auch gut über die Aggressionen von anderen Verkehrsteilnehmern philosophieren. Mit etwas Übung ließe sich vielleicht der potenzielle Aggressionsgrad an der Automarke, der Fahrradfarbe oder der Frisur abschätzen …

Endlich erklingt die warnende Melodie der U-Bahntüren. Für die BVG-Sheriffs ist es ein Schießsignal. Jetzt können sie ihren Colt ziehen. Wie viele Mitfahrer sind jetzt noch nicht auf sie aufmerksam geworden? Ich wette mit mir selbst. Der Tourist dort hinten, das Mädchen, das in ihre Musik vertieft ist, der schlafende Streuner … Meist sind die Kontrolleure dann schon mit ein oder zwei Schwarzfahrern zufrieden und der Rest geht ihnen durch die Lappen. Sollten sie mich mal einstellen! Aber ich bin ja kein miesepetriger Schrank …

S-Bahnfahrt in Richtung Süden (Aus der Bahn 10/12)

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Montag, 8:30 Uhr, Bornholmer Straße. 

Heute ist ein ausnehmend lauer Oktobertag. Der Himmel bläut schon zur Morgenstunde. Graue Geister gehen den Bahnsteig auf und ab, unwillig an diesem schönen Tag am Hebel zu ziehen und die Papierstapel zu heben – ungeduldig, ratlos oder einfach subtil zufrieden.

Das Bild scheint vollständig. Erst die aufmerksame Fehlersuche macht das störende Element sichtbar: Ein Rucksacktourist lässt sein Pappschild mit der Aufschrift „Richtung Süden“ hängen.

Vielleicht ist das der letzte warme Tag, vielleicht die letzte Gelegenheit, mit den Vögeln Richtung Süden zu fliegen. Ob ich dem Tramper sein Schild abschwatzen könnte? Oder ihn gar begleiten?

Mittlerweile stehen wir in der S-Bahn „Richtung Süden“. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Die schönen Empfindungen der Wärme, mit der die Morgensonne am Bahnsteig meinen krummen Rücken lockerte und des Sonnenlichts, das meine Stirn zur Abwechslung mal nicht aus Verzweiflung in Falten warf, sind rasch vergessen. Das schöne Bild der besonnen Wartenden hat sich in der Bahn zerstreut, eine zwanghafte Atmosphäre bauscht sich auf. Niemand möchte heute zur Arbeit fahren, auch ich nicht.

Ich habe das Gefühl, ich fahre in ein Gefängnis. Es ist kein Wächter in Sicht, aber die Zeitungen haben Augen. Ich suche vergebens nach einem wachen Blick, doch die Mitfahrenden verstecken sich hinter ihren Zeitungen. Ein Titel lautet: „Schwerelose Schwerstarbeit: Ist Sex im All möglich?“

Während ich in Gedanken durch das All geschwebt bin, muss der Tramper ausgestiegen sein. Die Aussicht auf ein gemeinsames Abenteuer „Richtung Süden“ ist verflogen. Ich glotze sinnierend an die Bahndecke und lese: „Türnotöffnung. Klapse öffnen. Gashahn betätigen. Tür von Hand betätigen“. Ein freud’scher Verleser, der mich nur kurz belustigt und dann einen unerträglichen Druck auf meiner Brust hinterlässt.

Mein stiller Schrei eilt immer noch dem Rucksacktouristen hinterher, während mein Körper paralysiert im Zug „Richtung Arbeitslager“ verharrt. Der lose Verdacht, dass dies der letzte schöne Tag des Jahres ist, legt sich wie eine Kette um meinen Fuß. Jetzt bleibt nur noch die Hoffnung, dass irgendwann wieder der Frühling kommt und die Gefängniszelle öffnet.

 

Berliner Herbst verfallen (Aus der Bahn 9 / 12)

2014-09-02 19.27.12Berlin hängt mir heute Abend an den Fersen wie zähes Kaugummi. Bei jedem Schritt habe ich das Gefühl, ich ziehe etwas hinter mir her oder etwas zieht mich zurück.

Es ist einer dieser Tage, an dem man aus der Ringbahn gar nicht mehr aussteigen möchte, weil man, einmal den vorbestimmten Kreis der Schienen verlassen, zwangsläufig feststellen muss, wie sehr das eigene Leben aus der Bahn geraten ist. Man stolpert, läuft im Zickzack, vor und zurück, bleibt stehen, starrt in ein Schaufenster und denkt gar nichts dabei.

Die Schönen tänzeln rechts und links an mir vorbei wie Kinderseelen, die nichts Böses ahnen, irgendeinem Ziel entgegen, welches sich mir nicht erschließt. Ich klappe meinen Mantelkragen hoch. Der Wind beißt sich in jeden Winkel. Auf der Dänenstraße kommen mir die ersten Verwirrten im Schlängellauf entgegen. Ich überlege, ob es der Wind ist, der sie hin und her wirft, oder doch der Alkohol. Man schafft es immer irgendwie auszuweichen …

Mich von der Straßendisko auf der Schönhauser Allee immer weiter entfernend, erreiche ich schließlich die Behmbrücke. Im Wedding verändert sich sofort das Licht. In Prenzlauer Berg floh ich vor dem grellen Licht. Hier überkommt mich die Angst, von einem Häuserschatten verschluckt zu werden. Prenzlauer Berg ist monochrom, der Wedding verstört mit seinen Kontrasten.

Ich stelle mich vor die bunten Medienplakate in der Jülicherstraße und versuche mir zu merken, welchen Film ich heute, welches Konzert ich morgen und welches Theaterstück ich übermorgen verpassen werde. Doch mein Blick heftet sich an die dreckigen Sozialwohnungen hinter der Plakatwand, die von der untergehenden Sonne in rötliches Licht getaucht werden. Ich schaue über die Plakate und rudere hin und her zwischen romantischem Verfall und verfallener Romantik.

Die Kastanien fallen von den Bäumen, vor meine Füße. Sie wissen, warum ich so traurig bin. Ich schieße eine vor mich her und lass sie meinen Weg bestimmen. Wenig später in einer kuschelige Eckkneipe angelangt, massieren The Cure mein Gehirn. Nach dem ersten Schluck Bier beruhigt sich der Nystagmus meiner Augen. Aufgeregte Diskussionen stranden am Tresen, angespült als unverständliches Gemurmel. Mein Herz schlägt wieder die gesunden 120 BPM. Gerade wollen mir die Augen zufallen, als sich mit einem lauten Knall die Kneipentür öffnet und Herbstlaub über den Tresen fegt. Ich schauere. Bis zum Frühling will ich in dieser Kneipe verharren. Mit ein paar Büchern von Hermann Hesse und Kurt Tucholsky.

Brasilianer in Berlin (Aus der Bahn 8 / 12)

2014-07-16 11.02.10In der U8 mir gegenüber sitzt ein dunkelhäutiger Mann mit kleinen, geflochtenen Zöpfen. Neben ihm blättert ein blondes Mädchen in der „Brigitte“.

Brasilien!“, ruft der Mann freudig und zeigt in ihre Zeitschrift. Ich frage mich, ob die beiden sich kennen. „Ja, das ist die brasilianische Flagge. Da ist ja grad die Fußball-WM.“, antwortet sie und lächelt. Sie kennen sich nicht.

Mein Land!“, sagt er und während er auf ein Foto zeigt: „Rio de Janeiro! Da bin ich geboren!“.„Aber viele nackte Frauen!“, setzt er hinterher und zieht dabei eine Augenbraue hoch. In der Zeitschrift posieren vier brasilianische Bikinischönheiten – Gesicht und Hintern in die Kamera gedreht. „Ja“, sagt das blonde Mädchen, „In dem Artikel geht es um Beautywahn in Brasilien.“ Sie kräuselt dabei ihren Mund und zupft mit schwitzigen Fingern an den glänzenden Heft-Seiten als sei es ihr peinlich, dass ihr Frauenmagazin jetzt so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch dem Brasilianer scheint aufgefallen zu sein, dass er das Mädchen in Verlegenheit gebracht hat.

Uh, die Wetter heute … schwer, oder?“, lenkt er ab, zupft dabei sein T-Shirt als wolle er sich lüften, schüttelt den Kopf und schaut mich erwartungsvoll an. „Ja, ist schwül heute. Man kriegt schwer Luft.“, bestätige ich. Weil ich meine, das Gesagte ebenfalls gestisch unterstreichen zu müssen, rümpfe ich dabei die Nase und nicke energisch. Der Mann nickt freudig mit. „Eigentlich ich nicht U-Bahn, weil is immer so swüle Luft, nä? Aber heute: Is weiss auch nis. Aber wieder so swüle Luft!“, sagt er und geht dabei mit der Stimme hoch. Ich nicke und freue mich. Es erfrischt mich, in der U8 einen normalen Menschen getroffen zu haben. Einen, der eigentlich nicht U-Bahn fährt. Der über Brasilien redet, ohne über die Fußball-WM sprechen zu wollen oder gar über freizügige Bikinischönheiten.

Als ich an der Bernauer Straße aussteige, winken wir uns noch zu. Durch die Scheibe beobachte ich wie sich ein Neukölln-Hipster auf meinen Platz setzt. Auch er wird ohne Umwege von dem Brasilianer angesprochen. Beide verschwinden mit einem Lächeln im Gesicht im U-Bahntunnel.

So einen Brasilianer in der Berliner U-Bahn zu treffen, denke ich, ist gar nicht so wahrscheinlich. Schätzungsweise 15-20.000 Brasilianer leben in Berlin. Wer mal einen getroffen hat, weiß wenig Negatives zu berichten, außer vielleicht, dass der fröhliche Südamerikaner ihm seine eigene Jammer-Mentalität vor Augen geführt hat. Aber in der Regel mag und respektiert man sich. Vor allem, wenn es um Fußball geht.

Zur Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland vor acht Jahren wurden in Berlin Brasilianische Fußballspieler an die Wand gemalt. Am Schlesischen Tor prangte Ronaldinho, an der Friedrichstraße Ronaldo und auch hier in der Bernauer Straße wurde eine Fassade verziert. Vom Mauerpark aus war er lange gut sichtbar, der Fußballer Roberto Carlos. Über dem Bild stand: „Welcome to Berlin. Brazilian Team.“

Ist es noch da? Entgegen meinen Erwartungen existiert es noch. Nur sieht man es nicht mehr. Vor dem Haus steht ein Neubau. Unter den Eigentumswohnungen, im Café des Biomarktes sitzen zwei aalglatte Geschäftstypen in der Sonne und tun so, als ob Geldverdienen und Urlaubmachen ein und dasselbe wären. Die Immobilienfirma, die den Klotz bauen ließ, wirbt mit „best of both worlds“, dem „berühmten Mauerpark“ und dem „unglaublichen Sonntagsflomarkt“. Ist denen eigentlich klar, dass es den Flomarkt bald nicht mehr geben wird? Vielleicht wissen es ja wenigstens die Kaufinteressenten … Einige Wohnungen sind nämlich immer noch zu haben.

Ich schlage vor, den Klotz bei eventuellen Verkaufsproblemen kostengünstig Berliner Brasilianern zu überlassen. Als Entschädigung für die freche Entstellung des Wandgemäldes, die schwüle Berliner U-Bahnluft und natürlich für das 1:7 gegen Deutschland.

Die alten Wilden vom Helmholtzplatz (Aus der Bahn 7 /12)

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Am Helmholtzplatz wird wochentags ein ganz besonderer Ohrenbrei angerührt.

In der Raumerstraße wird fleißig an der Fassade gearbeitet. Bauschutt rutscht fröhlich in Container, Bohrmaschinen winden sich in alte Raufasertapeten, Arbeiter schreien sich Befehle zu, die alle mit „kurva“ enden. Von der Seite trägt der Wind manchmal den Spielplatzteppich heran. Zwei Kinder klappern mit den Buddelförmchen und auf einer quietschenden Schaukel hängt die erschöpfte Tochter einer tiefenentspannten Prenzl’berg Mutti in den Seilen.

Der hell-dumpfe Aufschlag eines Tischtennisballs streut sich wie Salz in die Mahlzeit. Die Kellen werden von zwei Halbstarken geführt, die gekonnt die Becksflaschen auf der Platte umspielen. Nach jedem Ballverlust nehmen sie einen Schluck: gluck, gluck, gluck.

Langsam brodelt sich der intensive Geschmack getrockneter Wildkräuter durch den Brei. Eines dieser nicht mehr ganz so jungen wilden Kräuter packt seine E-Gitarre aus und wippt selbstgefällig. Fünf von ihnen sitzen auf Stühlen im Kreis und grummeln in sich hinein. Es sieht so aus, als ob sie Karten spielen.

Auf einmal kommt ein anderer angeradelt, wie von einer Hummel gestochen, und schmeißt sein Fahrrad scheppernd zu Boden. Die Gitarre verstummt kurz. Der Aufgebrachte zieht einen der Herumsitzenden gewaltsam aus dem Kreis. Das Grummeln wird kurz einheitlich und laut. Der Brei beginnt zu kochen.

„Du Arsch!“, schreit er und andere Kraftausdrücke. „Ich hab‘ auch Hunger, man! Haste schön gefressen, ja?“ Dabei schupst er ihn über den Platz. Es stellt sich heraus, dass er vergeblich auf seinen Kollegen an der Suppenküche in der Kuglerstraße gewartet und nun, zwei Uhr nachmittags, immernoch nichts gegessen hat. „Hier haste was …“, sagt der Untreue schwerfällig und hält ihm die Reste seiner Chinabox hin. Der andere schlägt ihm das Essen aus der Hand und ohrfeigt ihn.

Einer aus der Kartenspieler-Runde, die gar nicht Karten spielt, bittet um Ruhe. Daraufhin schmeißt die Furie die Aktentasche des untreuen Kollegen auf den Boden. Es fallen Schriftstücke heraus. Der Besitzer sammelt, nun doch etwas nervös, seine Sachen ein und schlürft davon.

Der Geschmack der Wildkräuter verfliegt langsam. Der Baulärm gewinnt wieder Überhand. Dem Hungrigen reicht man ein Bier. Und der Vogelfreie wird an der Bank sechs Meter weiter empfangen – ebenfalls mit einem Bier.

Na dann Mahlzeit!

Knopf im Auge (Aus der Bahn 6|12)

RolleiIn der U8 sitzt mir schräg gegenüber ein türkischer Mann mit Schnauzbart und liest Zeitung.

An seine rechte Schulter schmiegt sich eine Wilmersdorfer Witwe. Sie spielt nervös an dem Tragegurt ihrer blauen Handtasche. Die obszöne Kuhle der Sitzbank scheint ihr zu missfallen. Wenn es ihre Knie hergäben, würde sie ja stehen. Seit drei Stationen wägt sie ab, was schlimmer ist: Wasser in den Knien oder der Türke zu ihrer Linken? Noch zwei Stationen. Die Atmung wird flacher. Hoffentlich kommt sie hier lebend heraus.

An die linke Schulter des Türken kuschelt sich ein geistig Behinderter, der fröhlich auf den Tasten seines Discmans herumdrückt. Ab und zu bohrt er seinen Ellenbogen in seine Seite und fuchtelt ihm mit den Händen vorm Gesicht herum. Der Türke wird hinter seiner Zeitung immer schmaler. Er hat Angst, erwischt zu werden. Tatsächlich ist in der U8 nämlich nur transportberechtigt, wer eine ordentliche Macke besitzt. Und was geschieht dann?

Es ertönt ein heller Laut. Vor den Füßen des türkischen Mannes dreht sich ein runder Gegenstand. Als erstes wird die fahrige Frau von gegenüber auf das unbekannte Objekt aufmerksam. Sie verkrampft ihren Körper, dann hebt sie langsam den linken Arm. Der Mund öffnet sich, doch es dauert einen Moment, bis sie ihre Stimme findet. In ihrer Kehle knackt es kurz wie man es von alten Lautsprechern kennt, dann: „Äh … Ähhh … Halloooo?“. Der Mann schaut auf. „Hallooo, äh, Sie haben da etwas verloren!“. Sie zeigt auf den Gegenstand vor seinen Füßen.

Der Mann macht eine halbe Verbeugung, nähert sich grazil dem Gegenstand, betrachtet ihn kurz, dann hebt er ihn auf: Es ist ein Knopf.

Sein Blick fährt Jacke und Hemd ab, dann schüttelt er verlegen den Kopf. Wortlos wendet er sich an die Witwe, die die ganze Zeit nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, entrüstet aufzuspringen. Ihr irrer Blick fixiert den Knopf in seiner zitternden Hand. In der ganzen U-Bahn setzt kurz der Atem aus. Ob sie ihn mit ihrer Handtasche verprügeln wird?

Doch wider Erwarten entzerren sich ihre Gesichtszüge. Leichtfüßig tänzelt sie vor dem Knopf herum, als wäre das Wasser in ihren Gelenken plötzlich verdunstet. Und dann nimmt sie ihn sogar an sich. Fast bedauernd winkt sie ab; ihrer ist es nicht.

Der liebe Türke bekommt den Knopf zurück und gibt ihn im fliegenden Wechsel dem behinderten Jungen zu seiner Linken, der sich eh vor Vorfreude kaum mehr auf seinem Sitz halten kann. Er hüpft auf der Bank herum, jauchzt und stöhnt einen Moment – wer jetzt noch nicht von diesem Theaterstück in seinen Bann gerissen wurde, muss wirklich blind sein – mit einer Ernsthaftigkeit inspiziert er sich dann selbst und vergleicht jeden einzelnen Knopf an seiner Kleidung mit dem in seiner Hand. Nichts lässt er aus, auch nicht den Hosenknopf. Und huch: Sein Hosenstall ist ja offen. Na ja, das Bahnpublikum lässt sich zu einem verlegenen Lachen überreden. Dem Jungen imponiert das gar nicht. Kurz überlegt er, den Knopf zu behalten. Er streicht sanft über seine glatte Oberfläche, aber der Türke, der sich zuvor gewünscht hatte, es hätte diesen Knopf nie gegeben, will ihn nun doch ganz gern zurückhaben. Was hat der denn jetzt vor? Ach so, weil sich die Zuschauer bereits zu großen Teilen gelangweilt abgewandt haben, nutzt er die Gelegenheit und checkt auch noch mal seinen Hosenknopf: Nee, auch nicht!

Komisch!

Ein Walkman auf Entzug (Aus der Bahn 5 / 12)

Foto0377Hochgeschaukelt von frühlingshaften Gefühlen setze ich mich auf Bahnentzug und atme bei einem Spaziergang belebende Liebesluft.

Der Wintermantel landete auf dem Zwischenboden und die Stiefel wurden mit  Trainingsschuhen getauscht. Mein Körper fühlt sich zehn Kilogramm leichter an. Und diese Bewegungsfreiheit in den Frühlingsklamotten! Endlich kann die Haut wieder atmen. Nicht nur der Körper, auch der Geist genießt den Sauerstoffcocktail. Im Gleichschritt gehen Körper und Geist mit mir spazieren. Mal sehen, wohin sie mich heute führen.

Ein Liebespaar am Arnimplatz. Das scheint den Geist zu interessieren. Ich halte an. Der Kopf dreht sich. Eine Parkbank. Schon sitze ich. Meine Augen verfolgen ein junges Paar, das sich am Sockel des Bettina und Achim von Arnim-Denkmals niedergelassen hat. Träumen sie oder lassen sie ihre Blicke in die Weite schweifen? Sehen wir hier den Ausgang einer anregender Auseinandersetzung, die sich dem Schweigen ergab? Oder genießt das Liebespaar die letzten Momente vor einem längeren Abschied?

Das in Bronze gegossene Dichterpaar wacht über das junge Glück zu ihren Füßen. Die Liebenden halten Inne, als die Statue zum Leben erwacht. „Nicht fester hängt die Pflanze an der Erde, Als ich von deiner Nähe festumschlossen werde.“, haucht Achim von Arnim und lässt sich in den Schoß seiner Frau fallen. „Es ist mein Auge vor ihm zugesunken,
Der mich so seltsam mit dem Blick umwoben, In seinem Lichte lieg ich traume-trunken.“
, flüstert Bettina und streichelt über den Kopf ihres Mannes. Als das Paar zu ihren Füßen sich regt, nehmen Achim und Bettina schnell wieder die alten Positionen ein.

Bevor ich mich auf den Heimweg mache, gehe ich ganz nah an den Beiden vorbei und ziehe mir Liebe durch die Nasenflügel. „...Liebe ist die Luft, die wir trinken.“ Sie schmeckt nach Lavendel und Schnittlauch. Unglaublich. Im Winter roch Liebe für mich nach Achselschweiß. Ich erinnere mich an zwei Küssende, die mir im Januar im Nacken hingen und mich dermaßen zur Weißglut brachten, dass ich beinahe den Platz gewechselt hätte. Entschied mich dann aber dagegen. Toleranz schulen, dachte ich, ist das erste Gebot eines jeden Berliners.

(Veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Mai 2014)

Schneeglöckchen-Revolution (Aus der Bahn 4 | 12)

FrühlingManche liebt man. Andere hätte man lieber lieben wollen. Wieder andere liebt man unbemerkt. An sie denke ich am Liebsten.

Wenn Winter und Sommer sich gemäß ihrer alljährlichen Tradition zu einem klandestinen Stelldichein treffen, dann ist der Frühling da. Die stürmische Liebesaffäre zwischen den zwei Jahreszeiten verblüfft uns jedes mal aufs Neue, wenn wir Zeugen ihrer unermüdlichen Sehnsucht werden. Wie oft hat der Sommer den Winter schon vor die Tür gesetzt? – Mal nach einem ausgiebigen Liebesurlaub, mal nach einem Quickie im Gebüsch. Doch in der Liebe sind wir alle unbelehrbar.
Als zum ersten Mal in diesem Jahr die Sonne zärtlich meinen Nacken streichelt, erwache ich wie ein Schneeglöckchen, das sich energisch aus dem Erdreich kämpft. „Schau dir die Sonne an!“, ermuntere ich meinen Sitznachbarn in der S-Bahn. Er lächelt mich an, wir strahlen gemeinsam zur Sonne; dann lassen wir schnell wieder unsere Köpfe hängen. Schneeglöckchen eben.
„Das ist der erste Tag in meinem Leben!“, denke ich, weil ich ein Dutzend anderer erster Tage vergessen habe. Wenn der Winter die Jahreszeit des Vergessens ist, dann wird im Frühling mir das Vergessen meines Vergessens gewahr. Im April sprießen die wilden Erinnerungen. Ich durchlebe die Liebesgeschichten, die ich über Monate erfolgreich verdrängte. Die abgehefteten Liebeserklärungen der vergangenen Lenze liegt als dicker Papierstapel auf meiner Brust. Mein Herz zerspringt! Alles springt!
„Spring!“, rufe ich einem Touristen beim Aussteigen zu und lache noch an der nächsten Straßenecke über sein verdutztes Gesicht. Jeder Gedanke ein Ausruf! Ich möchte den restlichen Weg gehen, dann laufe ich und vergesse mich schließlich im Rennen. Leider will mein verwinterter Körper nicht wie mein sommerliches Gemüt. Ich gönne mir eine Verschnaufpause im Eisladen Cohlila in der Gleimstraße. Als ich meine Bestellung aufgebe, ‚weiße Schokolade-schwarze Olive‘, lächelt mich der Mann mit dem ‚Erdbeer-Minze‘-Eis an. „Tut mir leid, ich bin ein Schneeglöckchen!“, erwidere ich und senke verlegen den Kopf. Ich beiße in mein Eis und frage mich, wie wohl ‚Weiße Schokolade-schwarze Olive-Erdbeer-Minze‘-Eis schmecken würde. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich mich dem Fremden um den Hals werfen und die Erdbeer-Minze von seinen Lippen trinken! Zeit für eine Schneeglöckchen-Revolution! Auf einen Frühling auf Lebenszeit!

(Veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, April 2014)

Der unersättliche Orion (Aus der Bahn 3|12)

Foto0388Ich steige an der Schönhauser Allee in die S2. Mir gegenüber sitzt eine dicke Mutti. Sie what’s app’t.

Jede neue Nachricht kündigt sich mit einem hellen Kinderlachen an. Das ist deshalb besonders irritierend, weil der Junge, zu dem das Lachen gehört, vor ihr im Kinderwagen sitzt. Er lacht nicht. Stattdessen versucht er sich Stücke des Brötchens in den Mund zu stecken, das seine Mutter ihm während ihrer virtuellen Konversation achtlos in die Hand drückte. Dabei vergaß sie, ihm den Nuckel aus dem Mund zu nehmen. Wie sich denn jetzt mitteilen? Der Junge beginnt erst sich Brotkrümel in Augen, Ohren und Nasenlöcher zu stecken. Die aufmerksamen Blicke der Mitfahrer animieren ihn anschließend dazu, die Krümel wild durch die Bahn zu werfen. Dabei lacht er fast so smart wie Mamas Telefon.

Als die Mutter die Krümelsauerei bemerkt, entzieht sie dem armen Kerl das Brötchen, sagt „alle, alle“ und erklärt auf die Nachfrage „Äh? Äh?“ ihres Kindes: „Das hat der Hund gefressen. Der ist schon weggegangen!“ Der Junge schaut sich nach dem Hund um und dann seine Mutter äußerst skeptisch an. Ich fühle mit ihm, als er völlig unerwartet hinter seinem Rücken ein zweites Brötchen hervorzaubert und das Spiel weiter treibt. Er hält das Brötchen wie eine Trophäe in die Höhe. Ich klatsche leise in mich hinein. An der Friedrichstraße steige ich aus.

Der Bahnhof trägt ein neues Kleid. Bayrischer Leberkäse ist jetzt da, wo neulich noch Damisch war und Ditsch kaufte den doppelt so großen Laden gegenüber. Der Schmuckladen hat geschlossen. Der Blumenladen existiert seit Ewigkeiten, ändert alle paar Jahre seinen Namen aber überlebt. Ebenso der Friseur im Zwischendeck. Wer lässt sich dort die Haare schneiden, neben Orion?

In dem Moment kommt mir eine Szene aus dem vorletzten Frühherbst in den Sinn. Auf dem Weg in ein nächtliches Abenteuer zeigte J. in den Himmel und rief: „Schau‘, da ist der Gürtel des Orion! – Und der ist nicht aus Leder!“ Wir feierten bis elf Uhr vormittags und verschliefen den dritten Oktober.

Die fleißigen Ameisen huschen an mir vorbei wie an einem Straßenpoller. In manche Augenblicke muss man sich hineinbeißen.

(Veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, März 2014)