akademia

im empirischen garten wachsen fakten
zwischen trockenen blättern lebendige herbarien
entwickeln sich im stillen zu reifen entitäten
bilden eine wahrheit

im empirischen garten kannst du sie denken
sehen wie die äderchen pulsieren
sie wachsen langsam unter deinem blick

im empirischen garten, nachts, gehen wir fakten
stehlen, zwei oder drei, aber zu hause gehen sie ein
am falschen standort, im falschen licht

zum empirischen garten haben wir keinen zugang mehr
wir stehen vor dem tor, hören die fakten atmen
zwischen trockenen blättern, belebt von neuen blicken

vor dem empirischen garten regt sich nichts
unsere köpfe geleert, wir sind buddhastatuen
sie drücken ihre kippen an uns aus

Teil 12: Byung-Chul Han (*1959)

„Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein“

Byung-Chul-Han-foto

In der letzten Folge tauchten wir in das Leben des fast vergessenen DDR-Philosophen Georg Klaus ein. Der Kybernetiker hatte die Zukunftsvision von einem Informationszentrum, in dem weltweit verfügbares Wissen gespeichert wird. Die Kommerzialisierung des Internets erlebte Klaus nicht mehr, denn er starb bereits 1974. In Berlin-Schöneberg lebt heute ein Philosoph, der sich mit den negativen Folgen unserer Informationsgesellschaft auseinandersetzt: Byung-Chul Han. Er steht dem grenzenlosen Internet kritisch gegenüber. Byung-Chul Han sagt, die Fülle an Informationen macht uns müde und krank.

Byung-Chul Han ist in Seoul geboren. 1980 kam er nach Deutschland. Hier studierte er neben Philosophie auch Theologie und Literatur. Er promovierte zu Heidegger, obwohl er sich der Philosophie von Hegel näher fühlt. Seit 2012 ist Han Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der UDK Berlin. In den letzten vier Jahren ist er zum Vorzeigephilosophen der Stadt avanciert. Byung-Chul Han erscheint an erster Stelle, wenn man im Internet nach Berliner Philosophen sucht. Ob ihn das freut? Schließlich steht Han der Konsumgesellschaft sehr kritisch gegenüber.
In seinem Buch „Psychopolitik“ vertritt er die These, das neoliberalistische System unserer Zeit würde die Freiheit instrumentalisieren. Den Monopolen würden wir gegenüber stehen wie Leibeigene vor Feudalherren: Wir arbeiteten für sie und bekämen Land dafür. Die Feudalherren schlügen Profit aus unserer Arbeit und gäben uns das Gefühl, frei zu sein. Doch was als Freiheit empfunden würde, wäre in Wirklichkeit Zwang. Die Menschen täten sich so schwer, dagegen zu protestieren, weil sie das vermeintliche Freiheitsgefühl nicht als Zwang erkennen. Weil sie auf die Vorteile dieses Abhängigkeitsverhältnisses, auf billige Klamotten oder kostenlosen Zugang zu Social Media-Plattformen nicht verzichten wollen.
Byung-Chul Hans Zeitanalyse geht noch weiter. Seiner Meinung nach ist die digitale Gesellschaft eine Klassengesellschaft. Big Data-Firmen würden ihre Konsumenten nach Marktwert einteilen. Wer kreditunwürdig ist oder nicht fleißig konsumiert, ist in ihren Augen nichts wert. So hätten beispielsweise viele Hartz IV-Empfänger mit Angst und Scham zu kämpfen, da sie wie Müll behandelt würden. Das wiederum mache sie handlungsunfähig.
Auf die Psyche des Menschen habe die neoliberale Gesellschaft also fatale Folgen. Die Menschen würden liebesunfähig und müde, sie erkrankten an Burn-Out und Depressionen. Hans amerikanisiertes Geburtsland Süd-Korea weist heute die höchste Selbstmordrate weltweit auf. In Seoul gäbe es sogar Selbstmordseminare. Elektronische Trost-Botschaften, die an Brückengeländern befestigt sind, sollen die Einwohner vom Sprung in den Tod abhalten.
Was hat Byung-Chul Han dieser kranken Welt entgegenzusetzen?
Wo man mit ständiger Überforderung zu kämpfen hat, da gibt es dann vielleicht doch eine hilfreiche Methode aus Hans Geburtsland Süd-Korea: die buddhistische Meditation, die er in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ auch als „tiefe Langeweile“ bezeichnet. Sollen wir also üben, uns zu langweilen? Ist das die Lösung? Sollten wir nicht lieber auf die Straße gehen?
In einem Artikel in der SZ schreibt Han, warum er eine Revolution nicht für die Lösung hält. Er denkt nicht, dass der aktive Widerstand zu einer Besserung führt, weil der Feind heute unsichtbar sei. Ein Protest käme einer Demonstration gegen sich selbst gleich. Schließlich sei doch jeder nicht nur Opfer, sondern auch Täter des Systems. Stattdessen scheint das kritische Denken für ihn das beste Rezept zur Weltveränderung. Denn Denken kann nach Han sehr explosiv sein. In einem Interview sagt er, das Basteln an Gedanken wäre „vielleicht gefährlicher als die Atombombe“. Ruhig schlafen könne er trotzdem nicht. Und die Frage, ob er glücklich sei, stelle er sich gar nicht.

Aktuelles zu Byung-Chul Han:
Isabella Gressers Film „Müdigkeitsgesellschaft“ bei dem Prenzlberger Verlag Matthes&Seitz erhältlich. Die Videokünstlerin Isabella Gresser begleitete in Ihrem Film den Philosophen Byung-Chul Han in Berlin und Seoul. Bei dem „Achtung Berlin“-Festival 2015 in Berlin erhielt der Film den ökumenischen Jury-Award.

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Mai 2016)

Teil 11: Georg Klaus (1912-1974)

Ein Querdenker in der DDR

klaus_georgIn der letzten Folge begleiteten wir den Psychoanalytiker Wilhelm Reich auf seinem steinigen Weg in das amerikanische Exil. Ebenso wie Reich, war auch der Kybernetiker Georg Klaus zeitgleich aktives Mitglied der KPD. Doch im Gegensatz zu Reich, entging er der politischen Verfolgung nicht durch Exil, sondern saß seine Gefängnisstrafe im Konzentrationslager Dachau ab. Danach begann er eine scheinbar vorbildliche Karriere als DDR-Wissenschaftler – bis ihm auch die kommunistische Diktatur zum Verhängnis wurde …

Nach Kriegsende setzt Georg Klaus seine politische Karriere bei der SED fort und nimmt ein Studium in Jena auf. Zu seinem Lehrer gehört der Logiker Max Bense, der ihn mit der Kybernetik bekannt macht. Die Kybernetik ist zu dieser Zeit eine sehr junge Wissenschaftstheorie, als dessen Begründer der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener gilt. Als Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen ist die Kybernetik ein Vorbereiter der Informatik. Forschungsschwerpunkt der Kybernetik ist jedoch nicht nur die künstliche Intelligenz, sondern auch die Steuerung sozialer Prozesse. Klaus‘ wird von nun an bemüht sein, die neuartigen Ansätze der Kybernetik für die Ost-Politik zweckdienlich zu machen.
Vorerst dient ihm zur Verbreitung seiner systemtheoretischen Theorie eine Professur für historischen Materialismus an der Berliner Humboldt Universität. Ab 1953 ist ihm der Lehrstuhl für Logik und Erkenntnistheorie inne. Zu dieser Zeit ist der Philosoph 
Heinz Liebscher Student bei Klaus. Nach seinen Aussagen, sei Georg Klaus zu jeder Zeit bewusst gewesen, mit wie viel parteitreuen Formulierungen man eine Forschungsarbeit füttern müsse, um dem Geschmack der obersten Instanz gerecht zu werden. Seine erste Schrift zur Kybernetik erscheint 1961: „Kybernetik in philosophischer Sicht“ erreicht bis 1964 vier Auflagen. Diese und weitere Veröffentlichungen zur Kybernetik stellen in den Augen des DDR-Regimes eine verkappte Annäherung an den amerikanischen Geist dar. Nicht nur wendet sich Klaus gegen die Verschleierung politischer und philosophischer Wahrheiten durch die Partei. Auch ist die von Klaus angestrebte „Soziokybernetik“ zeitgleich in den USA durch Rudolf Carnap en vogue, und wird einige Jahre später mit dem westdeutschen Soziologen Niklas Luhmann populär werden.
Klaus sieht trotz seiner aufrichtigen marxistisch-leninistischen Einstellung keinen Grund, der Wissenschaft Grenzen aufzuerlegen. Als Wissenschaftler hat er die Vision, jedem Menschen einen freien und unbegrenzten Zugang zu Wissen zu ermöglichen.
Unter 
Walter Ulbricht wird die Kybernetik Ende der sechziger Jahre kurzerhand in „marxistisch-leninistische Organistationswissenschaft“ umbenannt. Ulbricht versucht auf diesem Wege, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Steuerungssystemen für sich zu nutzen. Die transformierte DDR-Kybernetik ist jedoch nicht mehr im Sinne Klaus‘. Er arbeitet in den Siebzigerjahren an einem demokratischen System, welches ein unverfälschtes Wahlergebnis garantieren soll. Ihm schwebt ein Abstimmungsapparat vor, der in jedem DDR-Haushalt installiert wird, um die politische Mitsprache der Bürger zu fördern. Während der Informationsübermittlung soll die Richtigkeit der Abstimmung geprüft werden. Mit der Vorarbeit für diesen Wahl-Computer fordert Klaus das demokratische Selbstverständnis der DDR heraus – und geht im Kampf um einen „besseren“ Sozialismus als Verlierer hervor. 1971 beginnt Georg Klaus‘ – von Staatswegen beschlossene – Abwendung von der Kybernetik. Im Land wird er nunmehr bestenfalls geduldet; an der Universität, mehr als zuvor, seiner wissenschaftlichen Freiheit beraubt.
Wer nun vorschnell meinen mag, Klaus‘ könne aufgrund der ideologischen Färbung seiner Schriften, die wissenschaftliche Integrität abgesprochen werden, unterschätzt womöglich sein demokratisches Engagement. Nach seinem Verständnis zeichne sich ein ideale Sozialismus nicht nur durch Interdisziplinarität, sondern auch durch freien Wissens-Zugriff aus. 1974 erscheint sein Aufsatz „Zukunftsperspektiven“, in dem er unter anderem die Vision von „Informationszentren, in denen im Prinzip das ganze gegenwärtige Wissen der Menschheit vorhanden ist“, formuliert. Auch seine weitere Weissagung ist heute bereits erschreckend wirklich geworden: „
In Zukunft wird man nicht mehr Zeitung lesen. Unsere hypothetische Informationszentrale wird eine Riesenzeitung für die ganze Welt herausgeben, die jedem das gibt, was er benötigt.“
Seine letzten Lebensjahre verbringt Georg Klaus in Berlin-Wilhelmshagen. Er stirbt 1974 im Alter von 61 Jahren an einer Gelbfieberinfektion.
(Mehr zur Kybernetik in der DDR gibt es nachzulesen in dem Sammelband: „Kybernetik steckt den Osten an“, Trafoverlag, Berlin, 2007.)

Was danach geschah:
– bis 1987: in vierzehn Auflagen erscheint das „Philosophische Wörterbuch“, das von Georg Klaus und Manfred Buhr herausgegeben wird.
– 2011: der Schriftsteller 
Marc Schweska verarbeitet Klaus als Figur in seinem Roman „Zur letzten Instanz“.

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, März 2016)

Denkste!

Ich so: „Haste ’n Master of Arts, biste ’n Meister der Kunst.“
Du so: „Und kommste vom Wedding, trägste ’n Ehering.“
Ich so:  „Inhalierste Grass, brennt die Kuhweide.“
Du so: „Und haste ’n Apple, musste reinbeißen.“

Ich so: „Biste faul, kommste in‘ Biomüll.“
Du so: „Und die Queen bekämpft Drohnen mit Sex.“
Ich so: „Passierte Tomaten gehörn in Geschichtsbücher.“
Du so: „Und gegen Kater vom Pils hilft Risotto mit Whiskas.“

Angst vor Namen

Angst, den Dingen einen Namen zu geben
Angst, jemanden das erste Mal beim Namen zu nennen
Angst, jemandem das Du anzubieten

Erleichterung, selbst beim Namen genannt zu werden
Erleichterung, jemandes Namen zu kennen
Erleichterung, jemand jemanden beim Namen nennen zu hören
– erleichterte Angst.

Der Umstand der Erleichterung,
die Angst beim Namen genannt zu haben.

Teil 8: Hannah Arendt (1906-1975)

Von 1929 bis 1937 erste Ehe mit Günther Stern

 

arendt1924 begegnen Arendt und Stern sich zum ersten Mal auf Kant- und Hegel-Seminaren in Marburg. Günther Stern fällt Arendt durch seine intellektuelle Brillanz auf. Doch die 18-jährige Studentin hat nur Augen für ihren Professor. Mit Martin Heidegger pflegt sie ein erotisches Verhältnis. Es wird weitere fünf Jahre dauern, bis die ehemaligen Kommilitonen sich in Berlin, fern vom ewigen Nebenbuhler Heidegger, auf einem Tanzball näher kommen. Günther Stern kokettiert in seinen Aufzeichnungen mit der Behauptung, Hannah an diesem Abend durch ein kantianisches Versprechen für sich gewonnen zu haben, das sich leider nie bewahrheitet: „Lieben sei derjenige Akt, durch den man etwas Aposteriorisches: den zufällig getroffenen Anderen, in ein Apriori des eigenen Lebens verwandle.“

Auf diesem intellektuellen Niveau führt sich das Verhältnis der beiden jungen Philosophen fort. Zwar habe es nach Stern sinnliche Momente zwischen ihnen gegeben; er erinnere sich an leidenschaftliche Kirschen-Orgien auf dem gemeinsamen Balkon in Potsdam-Drewitz – Hannah sei ebenso süchtig nach Kirschen wie nach Zigaretten gewesen; sie habe die Kirschen vermutlich samt Kern und Stiel verschlungen, so Stern. Und doch bleibt ihre größte geteilte Leidenschaft der philosophische Dialog.* Erotische Gefühle oder gar Liebe hebt Hannah sich für Andere auf. Auf dieser sachlich-romantischen Grundlage heiraten Hannah Arendt und Günther Stern noch im selben Jahr. Hannah Arendt wird später resümieren, sie habe geheiratet „ganz gleich wen, ohne zu lieben.“ Und das tat sie angeblich mit vollem Bewusstsein; sei es aus Trotz; sei es, um die Trennung von Heidegger zu überwinden; sei es, um der Lebens-und Liebesgeschichte der jüdischen Saloniére und Schriftstellerin Rahel Varnhagen nachzueifern.

Zu dieser Zeit arbeitet Hannah Arendt nämlich an einer Studie über Rahel Varnhagen, ergründet deren Liebesleben und überträgt ihre biografische Arbeit vermutlich auf ihre eigene Situation. So schreibt Arendt, Rahel habe sich ihren romantischen Amouren abgewandt und Karl August Varnhagen geheiratet, um lieber „einsam mit einem zweiten zusammenzuleben, als an (…) platonischer Bewunderung zugrunde zu gehen.“ Parallel dazu habe ihre erste große Liebe Heidegger sie „zum Leben erweckt“ und Günther Stern ihr, vermutlich, das Leben gerettet. Denn Stern zeigt sich seiner Ehefrau gegenüber nicht nur intellektuell ebenbürtig. Er ist gutmütig, bewundernd, und: er liebt sie. Der hingebungsvolle Ehemann erhofft sich eine romantische Lebens- und Denkgemeinschaft mit dieser rebellischen Frau, doch bereits 1933 scheiden sich die philosophischen und politischen Interessen der Eheleute. Günther Stern hat in der Zwischenzeit einen neuen Nachnamen. Er nennt sich jetzt Günter Anders und verkehrt im Umfeld von Bertholt Brecht. Hannah Arendt schreibt weiterhin an ihrem Rahel-Werk und hat erste Kontakte zu Zionisten aufgenommen.

1937 lassen sich Arendt und Anders scheiden. Nach dem Reichstagsbrand flieht er nach Paris. Sie bleibt vorerst in Berlin und riskiert eine Verhaftung durch die Gestapo. Nach ihrer Freilassung folgt sie Günther Anders ins Exil nach Paris. Dort verfällt Hannah Arendt bald dem herrschsüchtigen Heinrich Blücher, den sie 1940 heiraten wird. Ihr zweiter Ehemann stellt für Arendt gewissermaßen einen gesunden Kompromiss zwischen dem erotischen Machtspiel mit Heidegger und dem Vernunftbündnis mit Günther Anders da. Blücher wird ihr Heimat, Leidenschaft, Eigenständigkeit und Liebe. Mit ihm und ihrer Mutter immigriert Hannah Arendt 1941 in die USA.

*Einen lebhaften Eindruck der philosophischen Dialoge zwischen Günther Stern und Hannah Arendt verschafft das Buch: „Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt“ (Günther Anders, C.H.Beck, 2011).

Was danach geschah:

Ab Oktober 1941: Arendt schreibt für das deutsch-jüdische Magazin ‚Aufbau‘ in New York.

1949-1952: Arbeit als Geschäftsführerin für die Organisation zur Rettung und Pflege jüdischen Kulturguts (JCR).

1949/50: Deutschland-Reise im Auftrag der JCR. Kontaktaufnahme zu Heidegger und Karl Jaspers.

04.12.1975: Hannah Arendt stirbt in New York an einem Herzinfarkt. Sie wird neben ihrem Mann Heinrich Blücher begraben.

Ein unvergesslicher Satz: „Eine große Liebe lässt sich durch die Realität des Geliebten nicht stören.“

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, September 2015)

Teil 7: Walter Benjamin (1892-1940)

Von 1915 bis 1940 Lebensfreund von Gershom Scholem

WalterBenjaminEine merkwürdige Art zu denken und zu sprechen hatte er, dazu eine „chinesische Höflichkeit“. Tief und melancholisch sei er gewesen. Seinen innigsten Wünschen sei er nicht nachgekommen; zum Beispiel denen, ein großes systemisches Werk zu schreiben und nach der Machtergreifung Hitlers 1933 noch Palästina auszureisen. Stattdessen habe er sich in Paris in Arbeit verstrickt, sich in die marxistische Theorie verrannt, mit Sprach- und Geschichtsphilosophie herumgeschlagen und darüber sein metaphysisches Talent vernachlässigt.

So äußert sich der jüdische Religionshistoriker Gershom Scholem 1941 in Gedenken an den jüngst verstorbenen Lebensfreund Walter Benjamin.

1923 war Scholem nach Palästina ausgewandert. Er wollte seine Geburtsstadt Berlin für immer hinter sich lassen, weil er als aktiver Zionist in Deutschland keine Zukunft mehr sah. Mit seiner Abreise kehrte Scholem auch der achtjährigen Freundschaft zu Walter Benjamin den Rücken zu. Die Intensität ihrer Auseinandersetzungen hatte ihn schon Jahre zuvor immer wieder in die Verzweiflung getrieben, er hatte Benjamin insgeheim einen unmenschlichen Irren und einen ungerechten Menschen genannt. Trotz Differenzen bestand zwischen Scholem und Benjamin bis zu dessen tragischem Tod 1940 ein reger Briefwechsel. Nach seinem Tod veröffentlichte Scholem mit Theodor Adorno Benjamins Werke. Er sammelte Lebensspuren, um seinen rätselhaften Freund vielleicht etwas besser verstehen zu können.

Walter Benjamin wurde in eine bürgerliche Familie assimilierter Juden geboren. Er wuchs um neunzehnhundert in der Delbrückstraße 23 in Berlin-Grunewald auf. Nach seiner Schulzeit in Thüringen, studierte Benjamin 1912 Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin. 1915 lernte er den fünf Jahre jüngeren Mathematikstudenten Gershom Scholem kennen. Nachdem er am Vortag ein Referat Scholems über das „Wesen des Geschichtsprozesses“ gehört hatte, sprach Benjamin ihn in der Universitätsbibliothek auf dessen Inhalt an. In den folgenden Tagen trafen die Studenten sich zu Kaffee oder Schach, um über geistige Ahnen, Sozialismus, Judentum und Kant zu sprechen.

Benjamin entwickelte über die Jahre der Freundschaft eine eigene Geschichtsauffassung, die besonders in der „Berliner Chronik“ von 1932 zum Ausdruck kommt. Nach dem ersten Weltkrieg, nachdem seine Eltern im Zuge der Inflation ihr Vermögen verloren hatten, nachdem Benjamins Habilitation gescheitert war und er sich aus Geldmangel gedrängt fühlte, als Publizist zu arbeiten, fragte er sich nach der Notwendigkeit von Geschichtsereignissen. Inwieweit hatten sich Stillstand und Zerfall, von denen er sein Leben dominiert sah, bereits in seiner Kindheit angedeutet?

In der „Berliner Chronik“ prüfte der Schriftsteller Wert und Wesen seiner eigenen Kindheitserinnerungen, und versuchte seine Vergangenheit vor dem Zerfall zu bewahren, indem er Momente herausgriff und von allen Seiten betrachtete.

Benjamin hatte die Theorie, dass sich die Fragmente der Zukunft bereits in der Vergangenheit widerspiegelten wie in einem Kristall, und dass man mit seinem gegenwärtigen Geist die Splitter der Zukunft aus der Vergangenheit heraus exerzieren könne. Dieses künstliche Herausnehmen aus dem Geschichtsprozess bedeutete für Benjamin – unter Einfluss des historischen Materialismus Karl Marx‘ – die Rettung des Moments vor seiner Umdeutung und Instrumentalisierung als Ware und gleichzeitig einen Stillstand.

Benjamin ließ sich zu Beginn des zweiten Weltkriegs nach Frankreich ins Exil treiben, in Paris schrieb er jahrelang an seinem „Passagen“-Werk und verlief sich in den Spuren, die er verfolgte. Sein eigenes Leben, seine Kindheit aber auch seine jüdische Herkunft, behandelte Benjamin als Materialsammlung.

Vielleicht stieß er bei seiner Rückschau auf keine Rechtfertigungen für eine Utopie. Vielleicht war sein Selbstmord die logische Konsequenz seines Skeptizismus. Sicher wurde Benjamin aber auch von den Umständen in den Tod getrieben. Von Südfrankreich aus wollte er die spanische Grenze passieren, doch die Grenztruppen hielten ihn tagelang hin. Es gibt aber auch Berichte von Freunden, die bestätigen, dass der Schriftsteller zuvor bereits des öfteren Suizidgedanken geäußert habe. Unzweifelhaft bleibt: Walter Benjamin starb am 26.09.1940 durch eine Überdosis Morphintabletten in Portbou und verweigerte sich der Lebensrettung.

Mehr zu Walter Benjamin gibt es nachzulesen in: „Begegnungen mit Benjamin“ (Erdmut Wizisla, Lehmstedt Verlag, 2015).

Was danach geschah:

1969: Hannah Arendt gibt in den USA den Sammelband „Illuminations. Walter Benjamin: Essays and Reflections“ heraus und macht Benjamin posthum international bekannt.

1970-1989: Adorno und Scholem geben die gesammelten Werke von Walter Benjamin heraus und bewirken in Westdeutschland einen regelrechten Benjamin-Kult.

Ein unvergesslicher Satz: „Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.“

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, Juli 2015)


Mein Plan für heute

Heute will ich schöne Lieder hören
über Liebe und Verkehr
Monotonen Rhythmen lauschen,
aus Peru und Papua Neuguinea

Heute will ich Sprachen hören,
deren Laute sich verlaufen (in der Ohrmuschel)
weil ich die Worte nicht versteh
und einfach mit dem Flow geh
einfach auf Bedeutung tanze,

einfach abschranze und das ganze
abgefranzte Dasein vergess (ohne Stress)
einfach atme und vernehme
wie sich alles zerstreut

– das ist mein Plan für heut.