Servicekraft auf dem Abstellgleis. Meine Zeit als Nachtdienst in einem Frauenhaus in Berlin

Foto0037Vor einem Jahr etablierte sich in mir mehr und mehr ein klares Verlangen: Ich möchte Gutes tun! Doch wie geht man so ein Vorhaben an? In einer nächtlichen Aktion schrieb ich Emails an einen Großteil der gefühlt 1000 Berliner Kulturhäuser und Sozialberatungen und weihte sie in meine Weltverbesserungspläne ein. Keiner von ihnen wollte eine Philosophiestudentin auf seine Klienten loslassen. Mein Mut wollte mich gerade wieder verlassen, als mich das Angebot erreichte, als studentischer Nachtdienst in einem Obdachlosenheim für Frauen zu arbeiten.

Wenige Tage später saß ich mit der ketterauchenden Heimleitung im Hinterhof eines Frauenwohnheims in Berlin-Wedding und ließ mir von den prekären Arbeitssituation erzählen. Man dürfe kein „Mäuschen“ sein, arbeite allein und hätte die volle Verantwortung für vierzig Frauen. Die meisten Frauen sind psychisch krank, fuhr die Heimleiterin fort. Manche gehören eigentlich in eine Klinik, es gäbe viele Fälle von Schizophrenie. Warum die dann hier landen würden, fragte ich. Das läge an einer Lücke im Sozialsystem.

Es gäbe da nämlich Menschen, die als nicht- oder nur schwer therapiefähig gelten. Ihr Leben ist durchlaufen von Drogenmissbrauch, Konflikten mit dem Gesetz, sexuellem Missbrauch und wiederholter Wohnungslosigkeit. – Erfahrungen, die ein Mensch allein nicht tragen kann. Um weitere Verletzungen zu vermeiden, bauen diese Menschen jedoch eine so dicke Mauer um ihre Seele, dass es sehr zeit- und kraftaufwändig ist, an sie heranzukommen. – Und gerade an Kraft und Zeit fehlt es den Psychiatern.

Eigentlich ähnelt dieses Wohnheim einem Abstellgleis. Die Betreuer sind Servicekräfte, die versuchen, den Bewohnern den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen.

Nach zwei Hospitationen stand meine erste eigene Schicht an. Meine Einarbeiterin J. riet mir, die sogenannte Trainerpauschale für studentische Nachtdienste nicht auf die Stunden herunterzurechnen. Da käme man nur auf fünf Euro, schob sie hinterher. Nun gut. Es ging ja um eine gute Sache.

J. arbeitete bereits seit zwei Jahren als Nachtdienst. Sie hatte ihre festen Muster etabliert, mit den Bewohnerinnen umzugehen, hatte ihre einstudierten Sätze, den immer gleichen Tonfall und wählte bei jeder Konfrontation automatisch den geeigneten Sicherheitsabstand. Ich als Neuling war überzeugt, dass es auch anders gehen würde.

Anfangs waren die Frauen durchaus sehr freundlich, erzählten aus ihrem Leben und bedankten sich oft. Auch untereinander waren sie größtenteils loyal. Wenn seelisch kranke Menschen miteinander leben, werden sie ihre Toleranzschwelle wohl oder übel heben müssen, nach dem Prinzip: Ich toleriere deine Macke, bitte toleriere auch meine; lass mich mit dem Wasserkocher reden, dann lass ich dich auch die Toilettenspüle zehn Mal hintereinander betätigen. Ich fand es sehr interessant zu beobachten, wie die Bewohner es teilweise schafften, Konflikte unter sich auszuhandeln. Nicht selten hatte ich das Gefühl, dass die ein oder andere Spießer-WG hier etwas lernen könnte.

Einen Monat lang glich mein Dienst eher einer Feldforschung, bis es während der fünften Schicht zur ersten Grenzerfahrung kam. In das Wohnheim war gerade eine Frau mit schweren Drogenproblemen und Halluzinationen gezogen. Sie erlitt in meiner Anwesenheit eine Panikattacke, zog mich in ihr Zimmer und schaltete das Licht aus. Auf ihrem Teppich blitzte ein Messer, in der Ecke lagen blutige Taschentücher. Sie meinte, ich solle mich nicht beunruhigen, ich solle nur sagen, ob da Tiere in ihrem Zimmer seien.

Die monatliche Teamsitzung präpariert einen nicht für solcherlei Situationen. Einzig dein Überlebensinstinkt rät dir, ruhig und rational zu bleiben. Fragen nach Sicherheit, Freiheit und Wahrheit erscheinen dir in diesem Moment lebensfern. Wenn jemand dich derart in seine Welt zieht, siehst du die Raubtiere, die diese Person tagtäglich hetzen; keine Hirngespinste einer Verrückten, sondern Verbildlichungen einer untragbaren Leidensgeschichte.

Ich bekam sie dazu, das Licht anzuschalten. Nachdem ich jede Ecke im Zimmer nach giftigen Insekten durchsucht hatte, wollte sie mir als Zeichen ihrer Kooperationsbereitschaft ein Tütchen Marihuana zustecken.

Draußen an der frischen Luft begann sie über die Ursachen ihrer Ängste zu sprechen. Mir wurde klar, dass ich hier meine Aufgabe überstieg. Laut Vertrag sollte ich nicht mehr als eine lebendige Sicherheitskamera sein. Während ich ihr meine volle Aufmerksamkeit widmete, dachte ich an die 39 anderen Frauen. Nach fünfzehn Minuten machten sich zwei von ihnen lauthals bemerkbar. Frau H. behauptete, dass Frau K. mir ihrem exzentrischen Parfüm einen Ausschlag begünstige. Solange Frau K. das Parfüm nicht weglasse, wüsste Frau H. sich nicht anders zu helfen, als laut zu schreien anzufangen, wenn Frau K. in ihre Nähe kommt. Mögen diese Machtspiele einem Außenstehenden lächerlich erscheinen, so geht es auch hier ums schiere Überleben. Man kämpft im Obdachlosenheim um jeden Zentimeter Freiraum, und jeder Zipfel Eigentum kann zum Schatz werden. Eins der schlimmsten Gefühl muss sein, kein Revier mehr zu haben, das es zu verteidigen gilt. Solange man kämpft, ist man wenigstens noch lebendig.

Als ich nach dreizehn Stunden Dienst das Wohnheim verließ, erschien mir der Wedding verändert. Wie kann ich weiter hier leben, dachte ich, wenn ich weiß, was hinter mancherlei Mauern, in mancherlei Seelen vor sich geht? Ich betrachtete die Menschen mit verändertem Blick, sie machten mir plötzlich Angst. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal einen Job gefunden zu haben, bei dem ich wirklich etwas leisten konnte. Pro-Contra, Ja-Nein, Angriff-Verteidigung? Auch ich war gespalten. Nie zuvor empfand ich das so deutlich wie jetzt.

Ich arbeitete ungefähr fünf Mal monatlich im Obdachosenheim. Nach sieben Monaten fühlte ich mich halbwegs ausgebrannt. Als ich bemerkte, dass ich mich aus Selbstschutz immer mehr mit einer distanzierten Sozialarbeiter-Attitüde umgab, beendete ich vorerst meine Dienste.

Ich kann gut verstehen, dass man als Sozialarbeiter und Psychologe nach wenigen Jahren lieber den Bürostuhl drückt oder gar in Frührente geht, als das Risiko einzugehen, irgendwann auf der anderen Seite des Therapietisches zu landen. „Abgrenzen“ ist eine Utopie. In uns blinken viel zu viele Spiegelneuronen, als dass solcherlei Grenzerfahrungen irgend jemanden kalt lassen könnten. So wie in dieser Einrichtung müssen nicht selten vier feste Mitarbeiter die Verantwortung für vierzig Bewohner übernehmen und täglich neue Anfragen abweisen. Die Chance auf einen Platz ist etwa so hoch, wie einen Studienplatz an der Deutschen Filmhochschule zu bekommen. Wer sich beim Vorstellungsgespräch gut benimmt, hat vielleicht eine Chance. Und wer nicht? Der geht für einige Tage zurück in die Notunterkunft, auf das Abstellgleis vor dem Abstellgleis.

(gekürzte Version unter dem Titel „Mauern um die Seele. Meine Zeit bei der Wohnungshilfe für Frauen im Wedding“ erschienen am 29.01.2014 im Tagesspiegel /Ressort Berlin. Und auf dem Wedding-Blog des Tagesspiegels)

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