Krautreporter – Party in Berlin

Augstein und Hünniger bei der Krautreporter-Party„Ihr seid die Crowd“ – und ihr seid Kraut von gestern


Die ambitionierten Jungjournalisten des Projekts „Krautreporter“ haben gestern Unterstützer und Freunde zu einer kostenlosen Veranstaltung in Berlin eingeladen. Zwei Tage vor Ende der großen Crowdfunding-Aktion. Ein letzter Versuch, noch einige Leute zum Spenden zu animieren.

Ich bin einer der bisher knapp 9500 (Stand: 11.Juni) potenziellen Mitglieder, die das werbefreie, gut recherchierte Online-Magazin Krautreporter mitfinanzieren wollten. Wie es aussieht, werden die 15.000 Unterstützer bis Freitag nicht mehr zusammen kommen. Aber ehrlich gesagt bin ich spätestens nach der gestrigen Veranstaltung auch gar nicht mehr so traurig darüber.

Von den vielen Berichten über das angeblich so neue Konzept des Online-Magazins Krautreporter fühlte ich mich vor einem Monat sofort angesprochen. Natürlich benötigen wir einen Umschwung im Online-Journalismus.

Viele Artikel (auch bei mir kommt das vor) werden gar nicht erst vergütet. Stattdessen wird entweder fleißig gekürzt oder gar nicht richtig lektoriert. Mich als Leser nerven ständig Werbebanner. Für weniger Werbung und mehr investigativen Journalismus würde ich gern 60 Euro im Jahr bezahlen. Und wenn das alle täten, gäbe es dann auch bald für jeden Online-Autoren Honorare. Natürlich möchte ich das unterstützen!

Auch gefiel mir, dass die Krautreporter fast durchweg junge Schreiber verschiedenster Medien sind. Was mich skeptisch machte, war der Werbefilm. Ist das nicht genau das, was wir nicht mehr wollen? Eine dramatisierende Reportagen-Hintergrund-Musik vor der ein Dutzend gepuderter Gesichter vorgeschriebene Phrasen von sich geben und in jeder Sequenz insinuieren: Wir sind geil, also gib uns dein Geld! Selbst wenn ihr geil seid: Warum benutzt ihr dann all‘ die ungeilen Methoden eurer konservativen Kollegen?

Trotzdem bin ich Mitglied geworden. Wie die meisten war ich einfach neugierig. Auch wenn von dieser Truppe die erhoffte Medien-Revolution nicht ausgeht. Im Moment gibt es noch keine bessere Alternative zu den Krautreportern und schließlich stimmt ja die Richtung. Das Konzept ist einfach nur noch nicht ausgereift. An dieser Stelle verweise ich auf einen offenen Brief von Dr. Ankowitsch an Sebastian Esser, den Gründer der Krautreporter. Als ersten Grund für seinen Wunsch, dass die Krautreporter scheitern, schreibt Ankowitsch: „Ihr wirkt auf mich wie eine Gruppe freier Journalisten, die darauf hoffen, angestellt zu werden – und nicht wie eine Gruppe von Entrepreneuren, die um jeden Preis eine journalistische Vision verwirklichen wollen.“

Dieser Eindruck hat sich für mich auf der gestrigen Veranstaltung in der Platoon Kunsthalle noch einmal bestätigt. Die Leute kamen, um Cocktailglas schwingend neue Kontakte zu knüpfen. Dagegen ist ja erstmal nichts zu sagen, nur fehlte der ganzen Veranstaltung total die Richtung. Die Reporter sprachen nicht von ihren Visionen, überhaupt gab es neben der Ska-Band Rupert’s Kitchen Orchestra und fünf Minuten Andrea Hanna Hünniger und Jakob Augstein kaum Programm. Das fand ich etwas enttäuschend. Die Gäste stürmten wegen der Hitze nach draußen. Augstein nahm den Hinterausgang und verschwand. Das Publikum halbierte sich, wahrscheinlich waren viele nur wegen ihm gekommen.

Ich schlich herum und infiltrierte andere Diskussionen: „Prekariat und Journalismus ist eigentlich ’ne gute Sache“, hörte ich einen sagen. Er referierte auf einen Einwurf von Jakob Augstein. Nachdem Andrea Hanna Hünniger gesagt hatte, das Journalisten sich heute nicht selten mit Hungerlöhnen herumschlagen müssten und deshalb zum Teil des Prekariats würden, wies er darauf hin, dass eine Nähe zum gemeinen Mann ja vielleicht gar nicht so schlecht wäre. So schreibe man wenigstens nicht an der Realität vorbei. Bürgernähe als Voraussetzung für authentischen Journalismus hätte sich schließlich auch die taz auf die Fahne geschrieben. Und Werbung gäbe es dort auch nicht. Überhaupt, sei der Ansatz eines Journalismus, bei dem die Leser die Themen mitbestimmen, gar nicht so innovativ, wie einem das hier verkauft würde. Der Freitag hätte schließlich eine Community. Da könne jeder mitschreiben.

Andrea Hanna Hünniger reagierte unbeholfen. Als sie unsicher darauf hinwies, dass es bei den Krautreportern nur gut recherchierte Reportagen geben wird und keinen Meinungs- und Kolumnenteil, hakte Augstein nach: Keine Meinungen in einem Magazin? Na dann, gute Nacht!

Resigniert an einer Zigarette ziehend inspizierte ich noch einmal den Veranstaltungsflyer: „Ihr seid die Crowd“ steht dort. Wer will denn eigentlich so etwas? Hier gibt es nur Jungjournalisten. Jungjournalisten, die Angst vorm Jobcenter haben, Angst vor der nächsten Steuererklärung – und deshalb fleißig lächeln und netzwerken. Wenn das die Crowd ist, dann leben wir in einer furchtbar monochromen Welt.

(Veröffentlicht am 11.06.14 im Tagesspiegel Online /Ressort Meinung)

Weddingwandler: Die Tugendbewegung

SONY DSCWenn ich mir Sokrates im Wedding des 21.Jahrhunderts denken müsste, dann käme ich schnell an die Grenzen meines Vorstellungsvermögens. Eventuell wäre er einer von den Flaschensammlern. Er schliefe um diese Zeit mit seinem Hund Aristoteles unter einem Kastanienbaum in den Rehbergen und wüsche sich im Plötzensee. Die Suppe von der letzten „Volxküche“ hinge noch in seinem Vollbart.

Tugendhaftes Leben wird heute definitiv nicht mehr von bärtigen alten Männern verbreitet. In der Regel sind die Asketen der Neuzeit jung, attraktiv, gebildet und… nicht gerade wohlhabend. So wie die Weddingwandler. Sie tun völlig unprätentiös ihren Dienst am Kiez, “für mehr Nachbarschaft und enkeltaugliches Leben”.

Am letzten Sonntag konnte man sie vor dem Café Tassenkuchen treffen. Einige von ihnen schraubten an Fahrrädern und machten sie frühjahrstauglich, Ehrensache. Andere hängten ausrangierte Kleidungsstücke an eine Wäscheleine, zum Mitnehmen. Wieder andere unterhielten sich mit ein paar Nachbarn und schauten das Saatgutangebot durch, ist vielleicht was für den eigenen Balkon dabei? Passanten mögen sich über den Frieden und die Harmonie gewundert haben, die Weddingwandler in den Kiez brachten. Diese Freundlichkeit ist man ja in Berlin generell nicht gewohnt, schon gar nicht von den Jüngeren. Die Nachbarn tragen gewöhnlich schwarze Balken über den Augen und rennen so schnell an einem vorbei, dass sie auch nach Jahren noch ein Mysterium bleiben. Nicht so die Weddingwandler, sie wirken offen und entspannt.

Haben die vielleicht einen im Tee?

Absolut.

Weddingwandler bekommen wöchentlich Tee, Kräuter, Gemüse und Obst aus dem Gutshof Neuruppin direkt in die Malplaquetstraße geliefert. Wer will, kann sich für 60 Euro im Monat eine Lieferung sichern, die garantiert einen 2-Personen-Haushalt versorgt. Falls es dann noch an Brot fehlt, steht das Brotback-Kollektiv gern zur Seite. Für alles Übrige empfiehlt sich der Biomarkt am Leopoldplatz, der jeden Dienstag und Freitag stattfindet. Verhungern muss im Wedding also keiner und für Kleidung und Mobilität ist dank der Kleidertausch- und Fahrradreparatur-Aktionen auch gesorgt.

Was jetzt noch fehlt, ist ein wenig Aufklärung. Dafür finden beispielsweise Filmabende statt, während denen überwiegend gesellschaftskritische Dokumentationen gezeigt werden. Diskussion inbegriffen. Wem so viel Gutes befremdlich erscheint, dem sei hiermit versichert: Es gibt keinen Haken, keinen Knebelvertrag, keine Sekte dahinter. Die Initiative Weddingwandler ist ein eher ungefährlicher Sprössling der Transition Town-Bewegung, die 2006 von Permakulturisten in Großbritannien ins Leben gerufen wurde. Die Bewegung möchte Städte in einen freundlichen Lebensraum umwandeln. Da helfen Gemüsebeete, da hilft aber manchmal auch schon ein Lächeln.

Heutzutage muss man kein Philosoph sein, um für ein tugendhaftes Leben mit gutem Beispiel voran gehen zu wollen. Die antiken Kardinaltugenden – Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit – wurden in den letzten zwei Jahrtausenden dermaßen unter Mitleidenschaft gezogen, dass Überholungsbedarf mehr als offensichtlich ist. Von Permakultur, Fair Trade und Ökostrom hatte Sokrates damals natürlich noch keine Ahnung. Doch er wusste, die Welt ist im Wandel – was heute noch als selbstverständlich gilt, kann bereits morgen der Geschichte angehören. Davon hat selbst unser selbstvergessener Wedding Wind bekommen, und wandelt fleißig mit. Alle Infos und Termine der Weddingwandler hier: weddingwandler.de

Veröffentlicht am 01.04.14 auf dem Wedding-Blog des Tagesspiegels.

Zeit auf der Bank

timebankingHeute lernte ich Andreas kennen. Der ehemalige Berliner und sein Jack Russel Otto wohnen in Cirencester in Süd-Westengland. Andreas arbeitet für „Fair Shares“ und handelt mit der Zeit anderer Leute. Egal, ob Fahrer, Massage, Klavierunterricht, Kuchenbacken, Reparatur oder Hundesitting: Die kleinen Dinge des Lebens gibt es bei „Fair Shares“ kostenlos für „time credits“. Für eine Stunde Arbeit verdienen die Mitglieder einen Zeitpunkt, den sie nach Belieben eintauschen können. Ganz egal, bei welchem Anbieter.

Für unsere soziale Arbeit in Glouchestershire (z.B. im Nelson Trust in Stroud) bekommen wir wöchentlich 6 Zeitpunkte. Heute baten wir die Organisation „Fair Share“ darum, uns unsere Wünsche zu erfüllen. Es stellte sich heraus, dass eine Akupunktur und auch Reiki leider schwer zu machen sind, wobei Gitarrenunterricht und ein Nähkurs eventuell möglich wären. Andreas erzählte uns, dass Zeitbanken (Time Banking) hauptsächlich in der Großstadt genutzt werden, obwohl es viel wichtiger wäre, die ländlichen Regionen zu fördern, da hier besonders wenig Lebenshilfe angeboten wird. Zu einem besonderen Anliegen der Organisation gehört es, älteren Menschen unter die Arme zu greifen.

Zeitbanken antworten auf den demografischen Wandel mit einem lebenslangen zinsenfreien Zeitkonto. Mit 70 könnte man dann die Füße hochlegen und die jungen Leute für sich einkaufen, ein Buch vorlesen, oder den Garten pflegen lassen. Eine wunderbare Idee sind Zeitbanken aber auch für junge Menschen mit einem eingeschränkten Budget. Schließlich kann man  landesweit Zeit von seinem Konto abbuchen. Wenn ich mir also in Berlin 10 Zeitpunkte erarbeite, kann ich diese 20 Jahre später in Klein Twülpstedt einlösen, sofern es bis dahin dort einen Zeitbank-Sitz gibt und mich was-auch-immer an diesen Ort verschlägt. Für die Zukunft sind sogar länderübergreifende Zeitkonten geplant.

In Deutschland gibt es zwar auch Zeitbanken, allerdings seien diese laut Andreas von „Fair Shares“ bisher lange nicht so weit gestreut wie im Vereinigtem Königreich. Die deutsche Regierung hätte bisher ein Problem damit, die Zeitbanken zu unterstützen, weil sie dadurch Steuergelder einbüßen würde. Vielleicht ein Thema für die nächste Online-Petition?


Hier schreibt die TAZ über die Zeitbank in München (Artikel von 2009).

Frei aber feige: Eine Generation verharrt im Wartezimmer

The next Person, who will asking me "What are your future plans?", will see me like this:Die Psychologiestudentin Julia Engelmann unterstellte ihrer Generation in ihrer poetischen Performance zu Recht, feige zu sein. Doch warum tun wir uns eigentlich mit Entscheidungen so schwer? Ein Blick hinter die lila Wolken.

„Wir haben unser Glück selbst in der Hand!“, „Wenn wir etwas ganz doll wollen, dann können wir es auch schaffen!“, „Wir sind so frei wie noch nie!“ – Diese Sätze sollten vielen von uns bekannt vorkommen. Nun hören wir sie sogar schon aus den eigenen Reihen. Die 21-jährige Julia Engelmann prangerte auf einem Poetry Slam die Inaktivität ihrer Altersgenossen an. Die Lebenszeit würde von Vielen nicht genutzt, sondern mit Zweifel und Prokrastination verschwendet, so Engelmann. Ich stimme zu, dass sich aus unseren Lebensläufen selten erzählenswerte Geschichten formen lassen.

Auch ich kann mich in die Reihe der liberalen Faulenzer oder faulenzenden Liberalen stellen. Jedoch glaube ich nicht, dass es genügt, auf Dächer zu steigen und lila Wolken anzuhimmeln. Wenn wir schon mal auf dem Dach sind, dann könnten wir die Gelegenheit gleich nutzen, und auch mal einen Blick auf unser Umfeld werfen.

Uns würde ganz schnell klar werden, dass unser ständiger Zweifel eine logische Reaktion auf eine Welt voller Möglichkeiten ist. Wir sind umgeben vom Besten des Besten und wir können nur mitschwimmen, wenn wir aus der Fülle an Möglichkeiten die beste wählen und besonders herausstechen. Wir bauen unseren Selbstwert aus unseren Entscheidungen; denken, jeder Fehlgriff könnte unseren Lebenslauf ruinieren. Wir sind Könige im Multitasking, schaufeln das Mittagessen in uns hinein, während wir mit Oma telefonieren und E-Mails beantworten. – Weil wir nicht „Nein“ sagen können. Dabei sollten wir die Prioritätenliste vielleicht mal etwas stutzen. Unsere wahren Freunde werden uns nicht gleich vergessen, wenn wir mal nicht zu einer Party kommen. Die Welt geht nicht unter, wenn wir die Hausarbeit im nächsten Semester schreiben.

Doch warum haben wir ständig das Gefühl, dass wir nur die Wünsche anderer erfüllen? Privilegien wie Schule, Auslandsaufenthalt, Praktikum und Studium fühlen sich wie Pflichtveranstaltungen an. Vor lauter Freiheitsrausch vergessen wir zu essen, zu schlafen und zu lieben und am Ende fühlt sich selbst das wie Pflicht an.

Wenn wir auf zu vielen Hochzeiten tanzen, zu jedem Thema in mindestens drei verschiedenen Sprachen irgend etwas zu sagen haben und von einem Kontinent zum anderen hüpfen, ist das ein sicheres Zeichen für Orientierungslosigkeit. In den ersten 21 Jahren unseres Lebens finden wir ja überhaupt keine Atempause, in der wir uns einmal nach unseren eigenen Wünschen fragen können. Statt uns mit Wissen zu füttern, hätte uns mal jemand darin unterrichten können, eine starke Persönlichkeit auszubilden. Wer nicht weiß, was er will, läuft Gefahr, sich zu verlieren,  in einer Welt, in der er alles sein und alles haben kann. Wer mit 20 noch der Liebling aller Lehrer war und sich in Selbstüberschätzung suhlte, kann nur wenig später in der Vorlesung eines Studiengangs erwachen, den er niemals studieren wollte; Oder in den Armen einer Person, die er nie begehrte. Dann wird ihm plötzlich klar, dass er vom Leben gelebt wird und nicht anders herum.

Das Paradoxe ist, dass wir uns aus diesem Paradox der Unfreiheit durch ein Übermaß an Freiheit nur befreien können, indem wir es durch ein weiteres Paradox ausstechen: Wir können Größe zeigen, indem wir nicht versuchen, groß zu sein. Wir werden freier, indem wir lernen, Fehler zu machen und auf Dinge zu verzichten. In einer Welt voller „Ja’s“ erfordert es jedoch Stärke, „Nein“ zu sagen. Deshalb ist es ganz natürlich, dass wir eine gewisse Zeit und viele Fehlstarts benötigen, bevor wir auf den richtigen Pfad gelangen.

Auf der Generation Z lastet ein hoher Druck. Schon allein ihre soziologische Bezeichnung lässt Endzeitstimmung aufkommen. Ich als Generation Y-Vertreter darf mich zurücklehnen und die Welt mit Sinnfragen torpedieren, aber ihr sollt das Alphabet zu einem schönen Ende bringen.

Julia Engelmann machte vor wenigen Wochen in ihrer poetischen Darbietung den ersten Schritt. Sie forderte ihre Altersgenossen dazu auf, das tägliche Prokrastinieren zu überwinden und aufs Dach zu steigen. Doch nachdem wir den eigenen Schweinehund bekämpft haben, sollten wir eine Stimme gegen die Zustände erheben, in denen sich unser Schweinehund pudelwohl fühlte. Vor dem Studentenzimmer finden Ausspähaktionen á la NSA statt. Eine opportunistische Kanzlerin geht in die dritte Amtszeit. Einem Schulsystem gelingt es, seinen Schülern die ganze Welt näher zu bringen, aber nicht sich selbst. Und wir sitzen still im Wartezimmer, bis uns jemand aufruft? Und wir nehmen uns die Freiheit, uns vor diesen Missständen einfach weg zu flüchten, in eine romantische lila Traumwelt?

Komm Baby, lass‘ uns endlich wirklich Geschichte schreiben!

 (Veröffentlicht am 6.02.14 im Ressort „Medien“ im Tagesspiegel (Online).)

Bedingungslose Empörung über Egalomanie

Angela Merkel auf BorkumIn den nächsten 5,5 Jahren wird es in der Schweiz einen Volksentscheid zur Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommens geben. Laut Gesetzesentwurf sollen jedem Schweizer 2500 Franken ausgezahlt werden, ca. 2025 Euro. Soviel Geld fürs Auf-der-faulen-Haut-Liegen? Hier kommen einige Argumente, warum die Egalomanie abnehmen würde, sofern ein Bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt würde.

Ich habe in diesem Jahr meine Erststimme dem Kollegen Ralf Boes gegeben, der die Initiative Bedingungsloses Grundeinkommen ins Leben rief und für sein Ideal in den Hungerstreik trat. Den Wahlkreis Mitte hat er mit 0,8 % nicht für sich gewinnen können. Stattdessen ist auf seiner Website aktuell von gesundheitlichen Folgeerscheinungen seiner Hunger-Aktion zu lesen. Ist so viel Einsatz lohnenswert? Was ist das für ein Mensch, der lieber hungert, als Hartz IV zu bekommen? Ralf Boes studierte u.a. Germanistik und Philosophie in Heidelberg. Als  er selbst aus familiären Gründen auf finanzielle Hilfe für Frau und Kind angewiesen war, begann sein Windmühlen-Kampf gegen das entmündigende Sozialsystem. Seither engagiert er sich als Dozent, Sozialarbeiter und Bürgerinitiativler für eine Besserung der prekären Situation in Deutschland, die nach Boes mit der Einführung des Hartz IV seinen Höhepunkt erreichte.

Was ist eigentlich so schlimm an Hartz IV? Sollten die Menschen nicht glücklich sein, dass ihnen bei der Jobsuche geholfen wird und sie monatlich Geld bekommen?  Die Argumente, dass Hartz IV jedem Menschen eine Möglichkeit auf Arbeit gibt, die Belange des Einzelnen berücksichtigt und zur Grundsicherung beiträgt, laufen auf philosophischer und psychologischer Sicht ins Leere. Jeder, der schon einmal auf soziale Hilfe angewiesen war – sei es Bafög, Wohngeld oder Hartz IV – weiß wahrscheinlich, auf welches entmündigende und entwürdigende Gefühl Ralf Boes referiert. Zuerst einmal stellt sich ein Gefühl der Schuld und des Versagens ein. Ich habe versagt, weil ich aus dem Arbeitssystem falle, weil ich mich für etwas interessiere, das nicht gewürdigt wird – Ist das meine Schuld? Umso mehr unterliege ich dem äußeren Druck, erfolgreich zu sein. Aber dieser Zwang, etwas bestimmtes  tun zu müssen, wirkt lähmend statt fördernd; In jemandes (beispielsweise eines Amtes) Schuld zu stehen wirkt lähmend statt fördernd. Der Philosoph Peter Bieri (ein Schweizer!!!) schreibt in seinem Buch „Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens“:

Im Innern von fremd anmutenden Wünschen umstellt zu sein, ist, als ob man innerhalb von Gefängnismauern lebte, und das Verstehen ist das Mittel, sie niederzureißen.

Wenn ich abhängig bin, bin ich aber fremdbestimmt und demnach unfrei. Das Einzige, das das Sozialsystem noch aufrecht hält, sind die Unsicherheit und Angst der Bürger, die schon lange nicht mehr verstehen, was sie da tun. Im besten Fall bleibt ihnen ihr schlechtes Gefühl. Ich hatte dieses schlechte Gefühl beispielsweise in der letzten Woche auf dem Bürgeramt Wedding. Mein Mitbewohner besitzt keine EC Karte, aber im Bürgeramt ist Bar- und Kreditkartenzahlung nicht möglich. Also mussten wir zum Rathaus Wedding fahren, an einen Kassenautomaten gehen, seine Gebühren begleichen und mit der Quittung zurück zum Bürgeramt fahren. Mit was für einem Gefühl von Sinnlosigkeit fährt man in diesem Fall durch die Stadt? Und dem Mitarbeiter sieht man an, dass er sich freundlich lächelnd jeder Verantwortung entzieht, denn „er hat ja die Gesetze nicht gemacht, er macht ja nur seinen Job“. Ähnlich könnte auch unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel argumentieren: Hartz IV hat sie ja wirklich nicht gemacht – aber auch nicht verhindert. Der Merkel-Kult ist für mich das beste Zeichen für eine ängstliche, unkreative und unmündige Wählerschaft. Merkel ist nahezu unpolitisch und deshalb ist es kein Wunder, dass sie sogar ihre Anhänger in der Hipster-Szene gefunden hat, der womöglich unpolitischsten Jugendbewegung aller Zeiten.

Ich habe allmählich das Gefühl, viele Bürger sind von einer Egalomanie betroffen und sehen die Gefängnismauern gar nicht mehr, innerhalb derer sie ihre Kreise laufen. Dieses Gefühl der Entfremdung macht uns zu einer kranken Gesellschaft, einer Borderline Gesellschaft. Wir sind Missbrauchsopfer, die mit ihren Tätern sympathisieren. Jedes neue Gesetz, ist ein Gesetz zu viel, wenn nicht zuvor zehn andere abgeschafft werden, denn im Paragraphendschungel erkennen wir ja bald das wichtigste aller Gesetze nicht mehr: Das Gesetz der Gefühle. Weg mit der Gefühlsleere, her mit einer Gefühlslehre! Wie soll Simone de Beauvoir so schön gesagt haben?: „Ein Gefühl ist ein Engagement, das den Augenblick überschreitet“. Was einmal gefühlt, ist längst entschieden, also beginnen wir doch einfach wieder damit, uns auf unser Gefühl zu verlassen und engagieren uns ihm entsprechend. Ralf Boes hat das getan. Aus seiner Aktion spricht tiefste Verzweiflung. Vielleicht, weil seinem Ideal des Bedingungslosen Grundeinkommens so große Steine in den Weg gelegt werden. Bis Januar 2014 sammelt die Europäische Bürgerinitiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen noch Unterschriften. Nicht einmal ein Viertel der geforderten 1 Millionen Stimmen sind bisher gesammelt worden. Ich habe dabei ein ungutes Gefühl.

Freie Wahl bei der Bundestagswahl?

WahlenKurz vor der Wahl examinieren wir das Wahlomat-Orakel. Mein Ergebnis ist wie erwartet. Und trotzdem weiß ich nicht, wo ich mein Kreuz setzen soll. Um bei einer neu entflammten Diskussion mit einer Bekannten, angehende Rechtsanwältin, die richtigen Argumente für das Bedingungslose Grundeinkommen zu finden, schaue ich den Film Kulturimpuls: Bedingungsloses Grundeinkommen.  Das Ergebnis ist wie erwartet. Die Rechtsanwältin ist weiterhin skeptisch, die Philosophin euphorisch. Die eine klagte über leere Worthülsen und fragt sich, wie man die ca. 960 Milliarden pro Jahr finanzieren soll, bei einem  jährlichen Staatseinkommen von ca. 230 Milliarden Euro. Die Andere antwortet: Hartz 4, Kindergeld, Renten Adé, das eingesparte Geld umverteilen und damit alle geschundenen Seelen heilen: Familien, Selbstständige, Künstler, Rentner. Gesellschaftlich relevante Berufe besser vergüten, insbesondere den sozialen Sektor stärken. Doch was machen dann die Geisteswissenschaftler und Künstler? Haben wir davon nicht viel zu viele? Die bekommen jetzt schon keine Jobs, dann hätten sie wenigstens das Grundeinkommen. Die einzige Partei, die das Bedingungslose Grundeinkommen bedingungslos unterstützt, sind DIE PIRATEN. Doch den PIRATEN fehlen konstruktive Vorschläge für viele der Herausforderungen, die mit einem BG verbunden wären. Wie soll die Bundesregierung beispielsweise die Migrantenwelle abfangen, die auf uns zukommen wird, wenn Deutschland plötzlich der sozialste Sozialstaat der Welt wäre? Wir wissen doch jetzt schon nicht mehr, wohin mit den Italienern, Griechen und Spaniern, die in den letzen zwei Jahren die Warschauer Straße in Berlin zum Ballermann Europas machten. Dann also doch auf die Kompromisse der GRÜNEN und der LINKEN einlassen und ein bedingtes Grundeinkommen unterstützen?

Was wählen denn morgen die Künstler und Intellektuellen? DIE ZEIT gibt dieser Tage eine gute Übersicht. Wie Richard David Precht, zweifeln viele der 48 Befragten die Auswirkungen der Wählerstimmen auf das politische Fortgehen an. Einige scheinen wie Herrmann Kant die Wahlurne nur für den Seelenfrieden anzusteuern.  Jürgen Habermas empfiehlt Rot-Grün, sofern man den Glauben an ein starkes Europa noch nicht aufgegeben hat. Sybille Berg kommt mit konstruktiven Vorschlägen zur Personalpolitik : “Angela Merkel verlässt sofort ihre Partei, geht zu den Grünen, wird Außenministerin, Gregor Gysi verlässt sofort seine Partei, wird Finanzminister, Internet und Daten lassen wir Frau Weisband erledigen. Volker Beck wird Kanzler, Carolin Emcke macht den Job dieser Frau, die den Namen ihres Gatten angenommen hat und den ich leider vergessen habe.” Carl Hegemann befürchtet, dass man bei dem “Glücksspiel Wahlen” immer auch auf die Falschen setzen kann. Wähle ich eine CDU, kriege ich beispielsweise eine SPD dazu, weil die FDP zu wenig Stimmen erhalten hat. Wenn das mal nicht verdrießlich macht! Wolf Biermann schreibt eine Lobrede an Angela Merkel, dem gebrannten DDR-Mädchen. Kurt Beck glaubt an das KÖNNTE der SPD. Ulrich Matthes wählt aus Trotz und Mitleid die SPD. Sebastian Hartmann wirft eine neue Frage auf: Ist Nicht-Wählen vielleicht der beste Protest? Wenn wir nur noch die Wahl haben zwischen Status Quo und Revolution, dann ist die beste Wahl für Protestler vielleicht wirklich das Nicht-Wählen. Wenn niemand mehr wählen ginge, dann würde wenigstens mal etwas passieren! Eine traurige Erkenntnis, mit der Sebastian Hartmann nicht allein dasteht. Aber wenn schon Protest, dann vielleicht lieber DIE PARTEI wählen? Peter Sloterdijk ist der Meinung, dass es zur Aufhebung des “finanzpolitischen Wahnsystems” unerheblich ist, ob man wählt oder nicht, weil kein politischer Akteur eine Lösung parat hat.

Resumé: Nur die Wenigsten der 48 Künstler und Intellektuellen brennen für eine der Parteien. Viele der Befragten schätzen die Zurückhaltung und Bescheidenheit von Angela Merkel. Für welche Partei sie steht, scheint eher unerheblich. Die SPD wählt man aus Mitleid mit Peer Steinbrück, die LINKE aus Sympathie für Gregor Gysi. Die Zusammensetzung der Koalition bleibt ein Glücksspiel. Wer für eine große Koalition ist, sollte die SPD stärken. Vielleicht würde eine Schwarz-Rot-Rot-Grün-Gelb-Lila-Orange Koalition unserer ausweglosen Situation den besten Ausdruck verleihen. Die richtig Unzufriedenen sollten meines Erachtens die PARTEI wählen. Wir können wählen, was wir wollen, aber ändern können wir nichts. Insofern hat jeder freie Wahl.