Der Bahnhof, an dem ich wohne, ist einer der hässlichsten in Berlin. Dem Osten erscheint er als Tetrisblock, dem Westen wirbt er mit französischen Backwaren, die es gar nicht gibt.
Die zwei Eingänge zu den Bahngleisen befinden sich auf der Bösebrücke, die bedrohlich wackelt, wenn die M13 über sie fährt, gegen die regelmäßig PKW’s krachen, weil der Fahrstreifen hier ein paar Zentimeter schmaler ist und die Fahrmarkierungen fehlen. Aber die Stahlbrücke steht stramm seit 1916. Sie hat den schwarzen und den roten Block getragen, sie hat die Massen getragen, die 1989 von den Prenzlauer Berg in den Wedding stürmten und „Wahnsinn!Wahnsinn!“ schrien. Ein Aufhetzen, ein Hinhetzen, ein Weghetzen klebt an dieser Brücke.
Am S-Bahnhof Bornholmer Straße gibt es keinen Ansager und keine Servicekraft. Wir sind der erste Halt im Tal der Ahnungslosen. Wenn der Betriebsablauf gestört ist, entstehen Gerüchte, und eine seltsame Dynamik im „Sich-gemeinsam-Empören“ – darüber, dass ein Stromkasten explodiert, eine Bremsflüssigkeit eingefroren oder ein Baum umgefallen ist. Im alten Jahr störte zwei Mal ein Suizid am Gesundbrunnen meinen Betriebsablauf; einer um Weihnachten und einer um Ostern. Irgendjemand stieg drum in die M13, traf seine große Liebe und wird sich für immer an diesen Tag erinnern. Oder er verpasste seine große Liebe, wird es aber nie erfahren. Der Gleis-Suizid hat die Macht eines umfallenden Baumes.
Ich wohne jetzt schon sieben Jahre an der Bösebrücke. Erst wohnte ich in ihrem Osten, jetzt wohne ich im Westen. Ich bin eingekesselt von einem Bezirksdreieck, dessen Zentrum ein Strudel ist, ein Zeitstrudel vielleicht. Die Mauer, die es nicht mehr gibt, spüre ich noch ganz genau. Sie war da, wo heute Lidl steht; da, wo die japanischen Kirschen stehen, die im Januar blühen, weil sie hier nicht hingehören. Sogar den roten Wedding spüre ich. Wenn ich über die Brücke laufe, stelle ich mir manchmal vor, es ist Blutmai und ein Kugelhagel hetzt hinter mir her. Außerhalb meines Bezirksdreiecks bekomme ich ein Gefühl dafür, dass ich da drinnen zu Hause bin. Aber sobald ich da drinnen bin, fühlt es sich falsch an; I’m off beat, komm‘ auf zwei und vier, bin immer an der Grenze. Ich spring im Dreieck, wo die Mauer mal stand. Ich sitze auf ihr mit baumelnden Füßen; grüß‘ hier Schrebergartenomi, da Senegal-Jungen, dort Muttifreundin. Ich spiele Himmel und Hölle in der Grauzone. Bin gar nicht da. Bin gar nicht hier. Hello-Goodbye.
Heimat ist die Bornholmer Straße für mich geworden, obwohl ich an einem anderen Mauerstück aufgewachsen bin. Dort, wo die Stelen des Mahnmals ragen und Merkel ihre Reden hält. Aber von dort wurde ich längst vertrieben, ich kann die Spuren schwer verfolgen. Ich weiß, dass wir als Kinder Mauerstücke abgeklopft haben. Ich war traurig, als sie die Mauer abtrugen, weil mein erster Spielplatz im Leben verschwand. Mehr verstand ich nicht.
Seither suche ich. Und diese Sucherei wird am besten wiedergegeben auf der Hetzbrücke, im Bezirksdreieck, wo alle zu wohnen scheinen, die sich nicht entscheiden können. Heimat kann das hier nur werden für Menschen, die so richtig Heimat niemals haben werden.
(Veröffentlicht am 09.01.14 im Wedding-Blog des Tagesspiegels und auf www.quiez.de)
Die gute Seite des S-Bahnhofes:
Den relaxten Kioskbetreiber auf dem Bahnsteig
Richtung Stadt
Tatsächlich wollte ihn erwähnen: Den Sonnenschein dieses Bahnhofs. Der Franzose, der Gute, der immer lächelt, auch 8 Uhr in der früh bei Schneesturm und Regenschauer. 🙂
Aha. Franzose.
Ich vermeide diesen Bahnhof schon aus dem Grund da die Ansagen früher häufig falsch oder gar nicht kamen. Die 2-3 mal viel er mir jedenfalls auf.
Aber kann man da wohnen?
Tja… da fragst du was. Noch lebe ich ja.
> Date: Wed, 15 Jan 2014 18:19:04 +0000 >
🙂 ich auch. Gerade gelandet werde ich gleich an der bornholmer vorbeirauschen
Wie heimisch mann sich doch mit dem ersten Schritt im TXL fühlt.