Teil 11: Georg Klaus (1912-1974)

Ein Querdenker in der DDR

klaus_georgIn der letzten Folge begleiteten wir den Psychoanalytiker Wilhelm Reich auf seinem steinigen Weg in das amerikanische Exil. Ebenso wie Reich, war auch der Kybernetiker Georg Klaus zeitgleich aktives Mitglied der KPD. Doch im Gegensatz zu Reich, entging er der politischen Verfolgung nicht durch Exil, sondern saß seine Gefängnisstrafe im Konzentrationslager Dachau ab. Danach begann er eine scheinbar vorbildliche Karriere als DDR-Wissenschaftler – bis ihm auch die kommunistische Diktatur zum Verhängnis wurde …

Nach Kriegsende setzt Georg Klaus seine politische Karriere bei der SED fort und nimmt ein Studium in Jena auf. Zu seinem Lehrer gehört der Logiker Max Bense, der ihn mit der Kybernetik bekannt macht. Die Kybernetik ist zu dieser Zeit eine sehr junge Wissenschaftstheorie, als dessen Begründer der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener gilt. Als Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen ist die Kybernetik ein Vorbereiter der Informatik. Forschungsschwerpunkt der Kybernetik ist jedoch nicht nur die künstliche Intelligenz, sondern auch die Steuerung sozialer Prozesse. Klaus‘ wird von nun an bemüht sein, die neuartigen Ansätze der Kybernetik für die Ost-Politik zweckdienlich zu machen.
Vorerst dient ihm zur Verbreitung seiner systemtheoretischen Theorie eine Professur für historischen Materialismus an der Berliner Humboldt Universität. Ab 1953 ist ihm der Lehrstuhl für Logik und Erkenntnistheorie inne. Zu dieser Zeit ist der Philosoph 
Heinz Liebscher Student bei Klaus. Nach seinen Aussagen, sei Georg Klaus zu jeder Zeit bewusst gewesen, mit wie viel parteitreuen Formulierungen man eine Forschungsarbeit füttern müsse, um dem Geschmack der obersten Instanz gerecht zu werden. Seine erste Schrift zur Kybernetik erscheint 1961: „Kybernetik in philosophischer Sicht“ erreicht bis 1964 vier Auflagen. Diese und weitere Veröffentlichungen zur Kybernetik stellen in den Augen des DDR-Regimes eine verkappte Annäherung an den amerikanischen Geist dar. Nicht nur wendet sich Klaus gegen die Verschleierung politischer und philosophischer Wahrheiten durch die Partei. Auch ist die von Klaus angestrebte „Soziokybernetik“ zeitgleich in den USA durch Rudolf Carnap en vogue, und wird einige Jahre später mit dem westdeutschen Soziologen Niklas Luhmann populär werden.
Klaus sieht trotz seiner aufrichtigen marxistisch-leninistischen Einstellung keinen Grund, der Wissenschaft Grenzen aufzuerlegen. Als Wissenschaftler hat er die Vision, jedem Menschen einen freien und unbegrenzten Zugang zu Wissen zu ermöglichen.
Unter 
Walter Ulbricht wird die Kybernetik Ende der sechziger Jahre kurzerhand in „marxistisch-leninistische Organistationswissenschaft“ umbenannt. Ulbricht versucht auf diesem Wege, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Steuerungssystemen für sich zu nutzen. Die transformierte DDR-Kybernetik ist jedoch nicht mehr im Sinne Klaus‘. Er arbeitet in den Siebzigerjahren an einem demokratischen System, welches ein unverfälschtes Wahlergebnis garantieren soll. Ihm schwebt ein Abstimmungsapparat vor, der in jedem DDR-Haushalt installiert wird, um die politische Mitsprache der Bürger zu fördern. Während der Informationsübermittlung soll die Richtigkeit der Abstimmung geprüft werden. Mit der Vorarbeit für diesen Wahl-Computer fordert Klaus das demokratische Selbstverständnis der DDR heraus – und geht im Kampf um einen „besseren“ Sozialismus als Verlierer hervor. 1971 beginnt Georg Klaus‘ – von Staatswegen beschlossene – Abwendung von der Kybernetik. Im Land wird er nunmehr bestenfalls geduldet; an der Universität, mehr als zuvor, seiner wissenschaftlichen Freiheit beraubt.
Wer nun vorschnell meinen mag, Klaus‘ könne aufgrund der ideologischen Färbung seiner Schriften, die wissenschaftliche Integrität abgesprochen werden, unterschätzt womöglich sein demokratisches Engagement. Nach seinem Verständnis zeichne sich ein ideale Sozialismus nicht nur durch Interdisziplinarität, sondern auch durch freien Wissens-Zugriff aus. 1974 erscheint sein Aufsatz „Zukunftsperspektiven“, in dem er unter anderem die Vision von „Informationszentren, in denen im Prinzip das ganze gegenwärtige Wissen der Menschheit vorhanden ist“, formuliert. Auch seine weitere Weissagung ist heute bereits erschreckend wirklich geworden: „
In Zukunft wird man nicht mehr Zeitung lesen. Unsere hypothetische Informationszentrale wird eine Riesenzeitung für die ganze Welt herausgeben, die jedem das gibt, was er benötigt.“
Seine letzten Lebensjahre verbringt Georg Klaus in Berlin-Wilhelmshagen. Er stirbt 1974 im Alter von 61 Jahren an einer Gelbfieberinfektion.
(Mehr zur Kybernetik in der DDR gibt es nachzulesen in dem Sammelband: „Kybernetik steckt den Osten an“, Trafoverlag, Berlin, 2007.)

Was danach geschah:
– bis 1987: in vierzehn Auflagen erscheint das „Philosophische Wörterbuch“, das von Georg Klaus und Manfred Buhr herausgegeben wird.
– 2011: der Schriftsteller 
Marc Schweska verarbeitet Klaus als Figur in seinem Roman „Zur letzten Instanz“.

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, März 2016)

Gestörte Betriebsabläufe im Bezirksdreieck. Die Bornholmer Straße und ihre Bewohner

f4144028Der Bahnhof, an dem ich wohne, ist einer der hässlichsten in Berlin. Dem Osten erscheint er als Tetrisblock, dem Westen wirbt er mit französischen Backwaren, die es gar nicht gibt.

Die zwei Eingänge zu den Bahngleisen befinden sich auf der Bösebrücke, die bedrohlich wackelt, wenn die M13 über sie fährt, gegen die regelmäßig PKW’s krachen, weil der Fahrstreifen hier ein paar Zentimeter schmaler ist und die Fahrmarkierungen fehlen. Aber die Stahlbrücke steht stramm seit 1916. Sie hat den schwarzen und den roten Block getragen, sie hat die Massen getragen, die 1989 von den Prenzlauer Berg in den Wedding stürmten und „Wahnsinn!Wahnsinn!“ schrien. Ein Aufhetzen, ein Hinhetzen, ein Weghetzen klebt an dieser Brücke.

Am S-Bahnhof Bornholmer Straße gibt es keinen Ansager und keine Servicekraft. Wir sind der erste Halt im Tal der Ahnungslosen. Wenn der Betriebsablauf gestört ist, entstehen Gerüchte, und eine seltsame Dynamik im „Sich-gemeinsam-Empören“ – darüber, dass ein Stromkasten explodiert, eine Bremsflüssigkeit eingefroren oder ein Baum umgefallen ist. Im alten Jahr störte zwei Mal ein Suizid am Gesundbrunnen meinen Betriebsablauf; einer um Weihnachten und einer um Ostern. Irgendjemand stieg drum in die M13, traf seine große Liebe und wird sich für immer an diesen Tag erinnern. Oder er verpasste seine große Liebe, wird es aber nie erfahren. Der Gleis-Suizid hat die Macht eines umfallenden Baumes.

Ich wohne jetzt schon sieben Jahre an der Bösebrücke. Erst wohnte ich in ihrem Osten, jetzt wohne ich im Westen. Ich bin eingekesselt von einem Bezirksdreieck, dessen Zentrum ein Strudel ist, ein Zeitstrudel vielleicht. Die Mauer, die es nicht mehr gibt, spüre ich noch ganz genau. Sie war da, wo heute Lidl steht; da, wo die japanischen Kirschen stehen, die im Januar blühen, weil sie hier nicht hingehören. Sogar den roten Wedding spüre ich. Wenn ich über die Brücke laufe, stelle ich mir manchmal vor, es ist Blutmai und ein Kugelhagel hetzt hinter mir her. Außerhalb meines Bezirksdreiecks bekomme ich ein Gefühl dafür, dass ich da drinnen zu Hause bin. Aber sobald ich da drinnen bin, fühlt es sich falsch an; I’m off beat, komm‘ auf zwei und vier, bin immer an der Grenze. Ich spring im Dreieck, wo die Mauer mal stand. Ich sitze auf ihr mit baumelnden Füßen; grüß‘ hier Schrebergartenomi, da Senegal-Jungen, dort Muttifreundin. Ich spiele Himmel und Hölle in der Grauzone. Bin gar nicht da. Bin gar nicht hier. Hello-Goodbye.

Heimat ist die Bornholmer Straße für mich geworden, obwohl ich an einem anderen Mauerstück aufgewachsen bin. Dort, wo die Stelen des Mahnmals ragen und Merkel ihre Reden hält. Aber von dort wurde ich längst vertrieben, ich kann die Spuren schwer verfolgen. Ich weiß, dass wir als Kinder Mauerstücke abgeklopft haben. Ich war traurig, als sie die Mauer abtrugen, weil mein erster Spielplatz im Leben verschwand. Mehr verstand ich nicht.

Seither suche ich. Und diese Sucherei wird am besten wiedergegeben auf der Hetzbrücke, im Bezirksdreieck, wo alle zu wohnen scheinen, die sich nicht entscheiden können. Heimat kann das hier nur werden für Menschen, die so richtig Heimat niemals haben werden.

 (Veröffentlicht am 09.01.14 im Wedding-Blog des Tagesspiegels und auf www.quiez.de)