Es ist kurz vor Weihnachten. Irgendjemand hat vor zwei Wochen die Sonne abgeschaltet und vergessen sie wieder anzuschalten; Sparlampensaison. Durch das fehlende Vitamin D verliert der eine oder andere schon Zähne und Knochen, Herzen rattern wie zerkratzte Kiss-CDs, stockende Filmstreams oder Skype-Calls zwischen Berlin und New York. Die Grippe schleicht sich von hinten an und fährt mit ihren schlierigen Fingern über fröstelnde Rücken.
Ich steige in die U2 und beobachte, wie eine elegant gekleidete Gazelle auf High Heels der trötenden U-Bahn-Tür entgegen strakselt. Ein Mann mit Gehhilfe überholt sie und hält ihr die Tür auf. Das hätte ein wunderbarer Werbefilm für mehr Toleranz gegenüber Menschen mit Behinderung sein können, denke ich. „Wer ist hier behindert?“, hätte der Film geheißen.
„Nächste Mal noch länger die Tür blockieren, dann komm‘ wa wenigstens alle zu spät!“, motzt der Bahnfahrer durch die Lautsprecher. Dann fahren wir los.
Als ich gerade sitze, falle ich auch schon in die nächste Szenerie. Mir gegenüber sitzt eine abgewetzte Gestalt mit Vollbart und drei vollgepackten Nettotüten. Sie trinkt Maternusbier. „Man, man man!“, sagt der Mann kopfschüttend und setzt zur Rede an. „Mal in den Spiegel gucken, statt immer nur aufs Handy und smsen.“ Ich schaue durch die Bahn. Außer mir scheint sich niemand angesprochen zu fühlen. „Scheiß Frisur, fettige Haare, dicke Wangen vom Pommesfressen, zu trockene Haut!“, sagt er zu mir. Durch seine Zahnlücken haucht er: „Frohes Fest!“. Zwei Sitzplätze von mir entfernt regt sich ein Mitreisender über die Äußerungen des Nettotüten-Cowboys auf: „Fass‘ dir mal an deine eigene Säufernase!“ Der Adressat murmelt sich in seinen grauen Vollbart, als wäre er wirklich getroffen und suche nun in seinem Gesichtshaar einen Rückzugsort.
Doch die vermeintliche Reue ist anscheinend nur von kurzer Dauer. Bei der nächsten Station zieht er neue Aufmerksamkeit auf sich, als er eine lesende Frau anspricht: „Wat lesen sie denn da Schönet?“ Ich vermute in seiner unschuldigen Frage das Präludium für ein bevorstehendes Paukengewitter, doch diesmal regnet es keine Beleidigungen. Stattdessen vertieft er sich mit der Frau in ein Gespräch über Literatur. Als an der nächsten Station ein Musiker einsteigt, wirft der Stadtstreicher ihm einige Geldstücke in den Spendenhut. Kritisch betrachte ich mein Spiegelbild im Fenster: Dicke Wangen vom Pommesfressen? Vorsatz für 2015: Weniger Pommes „fressen“ und SMS‘ in der U-Bahnschreiben; noch mehr gute Bücher lesen.