Bahn-Verdrossenheit (Aus der Bahn 11/12)

Rollei

Ich sitze in der U8 und beobachte zwei vermeintlich zivile Kontrolleure bei den letzten Vorbereitungen vor ihrem Jagdzug. Das wird jetzt die vierte Kontrolle in sieben Tagen.

Die BVG-Sheriffs sind leicht zu erkennen. Sie stehen meist an der Tür, Männer wie Schränke, und lassen ihren blasierten Blick durch den Wagon schweifen; Mienen wie sieben Tage schlechtes Wetter. Nur manchmal lachen sie, aber auf diese herablassende Art. Erst ein herablassendes Lachen und dann stecken sie tuschelnd ihre Köpfe zusammen. Ich denke: Sie schließen Wetten ab, welche der Reisenden sich ohne Fahrschein befördern lassen. So versüßen sie sich ihren Arbeitstag. Was sollte es bei dieser Arbeit sonst zu lachen geben? Warum sonst diese sadistische Freude, andere Menschen auflaufen zu lassen? Bestimmt wetten sie unter einander um Geld. So können sie sich zu ihrem mäßigen Gehalt noch ein paar Groschen mehr ergaunern. Schwarzgeld durch Schwarzfahrer.

Vor zehn Jahren war es ja noch so, dass ein BVG-Kontrolleur einen Arbeitstag frei und voll bezahlt bekam, wenn er sechzehn Schwarzfahrer an einem Tag überführt hat – und mit seiner Entlassung rechnen konnte, wenn er wiederholt weniger als zwölf zur Kasse bat. Wäre das auch heute noch der Fall, könnte man als Fahrschein-Besitzer ja glatt ein schlechtes Gewissen bekommen.

Ähnliche Abgründe lassen sich bei den U-Bahnfahrern vermuten. Schlechte Bezahlung? Dünne Luft? Zu wenig Pausen? Oder was veranlasst unsere Steuermänner dazu, all zu oft mit solch einer Miesepetrigkeit ihre Ansagen zu machen?

Neulich in der U2 musste der Fahrer bei jeder Station die Endhaltestelle selbst ins Mikro sprechen: „U2 nach Ruhleben – zurück bleiben, bitte!“. Bei jeder Station schien seine Laune weiter zu sinken, obwohl man schon bei der ersten Station dachte, tiefer geht es gar nicht. Am Ende klang es so, als wollte er uns alle fressen. Der böse Wolf am Steuer. 

Wenn die S-Bahn mit ihren ständigen Ausfällen dafür verantwortlich ist, dass Berlin als chaotische Stadt verrufen ist, dann gab das miesepetrige BVG-Personal wahrscheinlich Anlass dazu, das Märchen vom unfreundlichen Berliner in die Welt zu setzen. Stimmt ja auch. Das Chaos und die schlechte Laune innerhalb der öffentlichen Verkehrsbetriebe färbt sicher auf die Fahrgäste ab. Die Berliner Verkehrsmittel sind sozusagen Katalysatoren unserer Verdrossenheit.

Aber wie sich nun richtig verhalten? Auf lange Sicht ist dann wohl das Beste, gar nicht mehr Bahn zu fahren. Als Schreiber hieße das, sich einen anderen Ort für seine Sozialstudien zu suchen. Auf dem Fahrrad lässt sich schließlich auch gut über die Aggressionen von anderen Verkehrsteilnehmern philosophieren. Mit etwas Übung ließe sich vielleicht der potenzielle Aggressionsgrad an der Automarke, der Fahrradfarbe oder der Frisur abschätzen …

Endlich erklingt die warnende Melodie der U-Bahntüren. Für die BVG-Sheriffs ist es ein Schießsignal. Jetzt können sie ihren Colt ziehen. Wie viele Mitfahrer sind jetzt noch nicht auf sie aufmerksam geworden? Ich wette mit mir selbst. Der Tourist dort hinten, das Mädchen, das in ihre Musik vertieft ist, der schlafende Streuner … Meist sind die Kontrolleure dann schon mit ein oder zwei Schwarzfahrern zufrieden und der Rest geht ihnen durch die Lappen. Sollten sie mich mal einstellen! Aber ich bin ja kein miesepetriger Schrank …

Knopf im Auge (Aus der Bahn 6|12)

RolleiIn der U8 sitzt mir schräg gegenüber ein türkischer Mann mit Schnauzbart und liest Zeitung.

An seine rechte Schulter schmiegt sich eine Wilmersdorfer Witwe. Sie spielt nervös an dem Tragegurt ihrer blauen Handtasche. Die obszöne Kuhle der Sitzbank scheint ihr zu missfallen. Wenn es ihre Knie hergäben, würde sie ja stehen. Seit drei Stationen wägt sie ab, was schlimmer ist: Wasser in den Knien oder der Türke zu ihrer Linken? Noch zwei Stationen. Die Atmung wird flacher. Hoffentlich kommt sie hier lebend heraus.

An die linke Schulter des Türken kuschelt sich ein geistig Behinderter, der fröhlich auf den Tasten seines Discmans herumdrückt. Ab und zu bohrt er seinen Ellenbogen in seine Seite und fuchtelt ihm mit den Händen vorm Gesicht herum. Der Türke wird hinter seiner Zeitung immer schmaler. Er hat Angst, erwischt zu werden. Tatsächlich ist in der U8 nämlich nur transportberechtigt, wer eine ordentliche Macke besitzt. Und was geschieht dann?

Es ertönt ein heller Laut. Vor den Füßen des türkischen Mannes dreht sich ein runder Gegenstand. Als erstes wird die fahrige Frau von gegenüber auf das unbekannte Objekt aufmerksam. Sie verkrampft ihren Körper, dann hebt sie langsam den linken Arm. Der Mund öffnet sich, doch es dauert einen Moment, bis sie ihre Stimme findet. In ihrer Kehle knackt es kurz wie man es von alten Lautsprechern kennt, dann: „Äh … Ähhh … Halloooo?“. Der Mann schaut auf. „Hallooo, äh, Sie haben da etwas verloren!“. Sie zeigt auf den Gegenstand vor seinen Füßen.

Der Mann macht eine halbe Verbeugung, nähert sich grazil dem Gegenstand, betrachtet ihn kurz, dann hebt er ihn auf: Es ist ein Knopf.

Sein Blick fährt Jacke und Hemd ab, dann schüttelt er verlegen den Kopf. Wortlos wendet er sich an die Witwe, die die ganze Zeit nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, entrüstet aufzuspringen. Ihr irrer Blick fixiert den Knopf in seiner zitternden Hand. In der ganzen U-Bahn setzt kurz der Atem aus. Ob sie ihn mit ihrer Handtasche verprügeln wird?

Doch wider Erwarten entzerren sich ihre Gesichtszüge. Leichtfüßig tänzelt sie vor dem Knopf herum, als wäre das Wasser in ihren Gelenken plötzlich verdunstet. Und dann nimmt sie ihn sogar an sich. Fast bedauernd winkt sie ab; ihrer ist es nicht.

Der liebe Türke bekommt den Knopf zurück und gibt ihn im fliegenden Wechsel dem behinderten Jungen zu seiner Linken, der sich eh vor Vorfreude kaum mehr auf seinem Sitz halten kann. Er hüpft auf der Bank herum, jauchzt und stöhnt einen Moment – wer jetzt noch nicht von diesem Theaterstück in seinen Bann gerissen wurde, muss wirklich blind sein – mit einer Ernsthaftigkeit inspiziert er sich dann selbst und vergleicht jeden einzelnen Knopf an seiner Kleidung mit dem in seiner Hand. Nichts lässt er aus, auch nicht den Hosenknopf. Und huch: Sein Hosenstall ist ja offen. Na ja, das Bahnpublikum lässt sich zu einem verlegenen Lachen überreden. Dem Jungen imponiert das gar nicht. Kurz überlegt er, den Knopf zu behalten. Er streicht sanft über seine glatte Oberfläche, aber der Türke, der sich zuvor gewünscht hatte, es hätte diesen Knopf nie gegeben, will ihn nun doch ganz gern zurückhaben. Was hat der denn jetzt vor? Ach so, weil sich die Zuschauer bereits zu großen Teilen gelangweilt abgewandt haben, nutzt er die Gelegenheit und checkt auch noch mal seinen Hosenknopf: Nee, auch nicht!

Komisch!