Teil 3: Henriette Herz (1764-1847)

Von 1779 bis 1795 Salonière in der Spandauer Straße 53

Henriette_Herz_by_Anna_Dorothea_Lisiewska_1778Eines bemerkte Henriette Herz schon recht früh: Sie war von außerordentlicher Schönheit. Man drehte sich nach ihr um, überhäufte sie mit Komplimenten … Manchmal stand sie gar selbst vor dem Spiegel und wunderte sich über ihr makelloses Äußeres. Henriette wurde darüber jedoch nie eingebildet. Sie galt bei ihren Freunden und Verwandten als bescheiden und gutherzig.

Anders war es mit den geistigen Dingen. Da konnte sie sich ihres Erachtens ein wenig Eitelkeit leisten. Henriette interessierte sich seit der frühen Kindheit für Literatur und Physik und beherrschte neun verschiedene Sprachen. Immer wieder fiel ihr auf, mit was für einer begrenzten Sicht die sogenannten Gelehrten aus ihrem kleinbürgerlichen, jüdischen Umfeld durch die Welt gingen. Sogar ihr Mann Marcus Herz war hier und da ein wenig einfältig. Besonders, wenn es um Herzensdinge ging.

Bei ihrer Hochzeit war sie fünfzehn, er zweiunddreißig. Klar, sie war etwas naiv an die Eheschließung herangegangen. Sie hoffte in erster Linie auf feinere Kleider, schöne Frisuren und mehr Taschengeld. Auch wenn ihr Zukünftiger ein kleiner, hässlicher Mann war, so war er doch zumindest ein angesehener Arzt mit einem geistreichen Gesicht. Ihr Ja zur Hochzeit hatte sie nie bereut. Sie liebte ihren Mann.

Marcus und Henriette Herz waren um 1800 eines der bekanntesten Intellektuellenpaare Berlins. Er, Kant-Schüler und guter Freund Lessings, und Sie, die Empfindsame und hingebungsvolle Verehrerin Goethes. In ihrem Haus in der Spandauer Straße 53, unweit der Marienkirche, fanden regelmäßig angesagte Vorträge statt. Marcus Herz langweilte seine Freunde nicht nur mit Kant-Vorträgen, während Henriette im Nebenzimmer Kaffeekränzchen zur Goethe-Lektüre veranstaltete. Das Haus der Eheleute Herz wurde auch aufgesucht, um sich beratschlagen zu lassen; wie damals, als Christian Kunth – der Hofmeister Alexander und Wilhelm von Humboldts – einen Blitzableiter in Tegel anbringen wollte und nicht so recht wusste, wie gefährlich das sei. Oder um wissenschaftliche Experimente durchzuführen; wie das Phosphor-Experiment, dass Henriette Herz mit dem kleinen Prinzen Louis Ferdinand von Preußen durchgeführt hatte.

In erster Linie war der Salon der Henriette Herz aber ein toller Ort der Begegnungen. Der Bildhauer Johann Gottfried Schadow lernte hier seine zukünftige Frau Marianne Devidels kennen. Und der achtzehnjährige Wilhelm von Humboldt war sehr verliebt in Henriette von Herz. Die beiden wurden gute Freunde und gründeten einen Tugendbund. Liebe ging hier durch den Kopf; oder das Denken schlug aufs Herz.

Was kurz danach geschah:

1795: Der Salon zieht in die Neue Friedrichstraße 22

1803: Tod von Marcus Herz

Mehr über Henriette Herz, ihre Zeit und ihre Bekanntschaften lässt sich nachlesen in: „Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen“, Die Andere Bibliothek 2013. Neu editiert von Rainer Schmitz.

Im Dezember erwacht zum Leben: Arthur Schopenhauer – studierte bei Johann Gottlieb Fichte in Berlin, hatte für viele Menschen nur Verachtung übrig, aber liebte seine Pudel.

S-Bahnfahrt in Richtung Süden (Aus der Bahn 10/12)

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Montag, 8:30 Uhr, Bornholmer Straße. 

Heute ist ein ausnehmend lauer Oktobertag. Der Himmel bläut schon zur Morgenstunde. Graue Geister gehen den Bahnsteig auf und ab, unwillig an diesem schönen Tag am Hebel zu ziehen und die Papierstapel zu heben – ungeduldig, ratlos oder einfach subtil zufrieden.

Das Bild scheint vollständig. Erst die aufmerksame Fehlersuche macht das störende Element sichtbar: Ein Rucksacktourist lässt sein Pappschild mit der Aufschrift „Richtung Süden“ hängen.

Vielleicht ist das der letzte warme Tag, vielleicht die letzte Gelegenheit, mit den Vögeln Richtung Süden zu fliegen. Ob ich dem Tramper sein Schild abschwatzen könnte? Oder ihn gar begleiten?

Mittlerweile stehen wir in der S-Bahn „Richtung Süden“. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Die schönen Empfindungen der Wärme, mit der die Morgensonne am Bahnsteig meinen krummen Rücken lockerte und des Sonnenlichts, das meine Stirn zur Abwechslung mal nicht aus Verzweiflung in Falten warf, sind rasch vergessen. Das schöne Bild der besonnen Wartenden hat sich in der Bahn zerstreut, eine zwanghafte Atmosphäre bauscht sich auf. Niemand möchte heute zur Arbeit fahren, auch ich nicht.

Ich habe das Gefühl, ich fahre in ein Gefängnis. Es ist kein Wächter in Sicht, aber die Zeitungen haben Augen. Ich suche vergebens nach einem wachen Blick, doch die Mitfahrenden verstecken sich hinter ihren Zeitungen. Ein Titel lautet: „Schwerelose Schwerstarbeit: Ist Sex im All möglich?“

Während ich in Gedanken durch das All geschwebt bin, muss der Tramper ausgestiegen sein. Die Aussicht auf ein gemeinsames Abenteuer „Richtung Süden“ ist verflogen. Ich glotze sinnierend an die Bahndecke und lese: „Türnotöffnung. Klapse öffnen. Gashahn betätigen. Tür von Hand betätigen“. Ein freud’scher Verleser, der mich nur kurz belustigt und dann einen unerträglichen Druck auf meiner Brust hinterlässt.

Mein stiller Schrei eilt immer noch dem Rucksacktouristen hinterher, während mein Körper paralysiert im Zug „Richtung Arbeitslager“ verharrt. Der lose Verdacht, dass dies der letzte schöne Tag des Jahres ist, legt sich wie eine Kette um meinen Fuß. Jetzt bleibt nur noch die Hoffnung, dass irgendwann wieder der Frühling kommt und die Gefängniszelle öffnet.

 

Berliner Herbst verfallen (Aus der Bahn 9 / 12)

2014-09-02 19.27.12Berlin hängt mir heute Abend an den Fersen wie zähes Kaugummi. Bei jedem Schritt habe ich das Gefühl, ich ziehe etwas hinter mir her oder etwas zieht mich zurück.

Es ist einer dieser Tage, an dem man aus der Ringbahn gar nicht mehr aussteigen möchte, weil man, einmal den vorbestimmten Kreis der Schienen verlassen, zwangsläufig feststellen muss, wie sehr das eigene Leben aus der Bahn geraten ist. Man stolpert, läuft im Zickzack, vor und zurück, bleibt stehen, starrt in ein Schaufenster und denkt gar nichts dabei.

Die Schönen tänzeln rechts und links an mir vorbei wie Kinderseelen, die nichts Böses ahnen, irgendeinem Ziel entgegen, welches sich mir nicht erschließt. Ich klappe meinen Mantelkragen hoch. Der Wind beißt sich in jeden Winkel. Auf der Dänenstraße kommen mir die ersten Verwirrten im Schlängellauf entgegen. Ich überlege, ob es der Wind ist, der sie hin und her wirft, oder doch der Alkohol. Man schafft es immer irgendwie auszuweichen …

Mich von der Straßendisko auf der Schönhauser Allee immer weiter entfernend, erreiche ich schließlich die Behmbrücke. Im Wedding verändert sich sofort das Licht. In Prenzlauer Berg floh ich vor dem grellen Licht. Hier überkommt mich die Angst, von einem Häuserschatten verschluckt zu werden. Prenzlauer Berg ist monochrom, der Wedding verstört mit seinen Kontrasten.

Ich stelle mich vor die bunten Medienplakate in der Jülicherstraße und versuche mir zu merken, welchen Film ich heute, welches Konzert ich morgen und welches Theaterstück ich übermorgen verpassen werde. Doch mein Blick heftet sich an die dreckigen Sozialwohnungen hinter der Plakatwand, die von der untergehenden Sonne in rötliches Licht getaucht werden. Ich schaue über die Plakate und rudere hin und her zwischen romantischem Verfall und verfallener Romantik.

Die Kastanien fallen von den Bäumen, vor meine Füße. Sie wissen, warum ich so traurig bin. Ich schieße eine vor mich her und lass sie meinen Weg bestimmen. Wenig später in einer kuschelige Eckkneipe angelangt, massieren The Cure mein Gehirn. Nach dem ersten Schluck Bier beruhigt sich der Nystagmus meiner Augen. Aufgeregte Diskussionen stranden am Tresen, angespült als unverständliches Gemurmel. Mein Herz schlägt wieder die gesunden 120 BPM. Gerade wollen mir die Augen zufallen, als sich mit einem lauten Knall die Kneipentür öffnet und Herbstlaub über den Tresen fegt. Ich schauere. Bis zum Frühling will ich in dieser Kneipe verharren. Mit ein paar Büchern von Hermann Hesse und Kurt Tucholsky.

Teil 2: Johann Gottlieb Fichte (1762-1814)

Von 1810-1811 erster gewählter Rektor an der Berliner Universität

Fichte

Es ist ein regnerischer Apriltag im Jahr 1811, als Professor Johann Gottlieb Fichte sein Rektorenzimmer räumt. „So eine Ungerechtigkeit! In Jena beschuldigten sie mich des Atheismus, weil ich mich gegen die Abgötterei und den Götzendienst ausspreche. In Berlin werde ich des engstirnigen Nationalismus beschuldigt, weil ich an den Patriotismus der Deutschen appelliere und dazu aufrufe, vor Napoleon nicht in die Knie zu gehen. Und jetzt zwingen sie mich auch noch, meine Rektorenstelle an der Berliner Universität niederzulegen, weil ich mich parteiisch auf die Seite eines Juden gestellt haben soll. Das ehemalige Land der Freiheit tritt unsere Grenzen in Grund und Boden, die preussische Regierung verbietet uns das Wort und, ja, selbst die Kollegen verschwören sich gegen uns.“

Fichte ist dermaßen brüskiert, weil er jüngst die Nachricht bekam, dass er seiner Stelle als Rektor vom heutigen Tage an entledigt ist. Dabei hatte er selbst um seine Entlassung gebeten.

Anlass zu seiner Bitte um Niederlegung des Amtes gab ihm die sogenannte Brogi-Klaatsch-Affäre. Der jüdische Medizinstudent Joseph Leyser Brogi hatte vor einigen Wochen den Rektor aufgesucht, nachdem er von zwei anderen Studenten gedemütigt wurde. Fichte erkannte die Ungerechtigkeit und sprach sich deutlich dagegen aus, Brogi ebenso wie seinen Widersacher Klaatsch mit vierzehn Tagen Karzer zu bestrafen, weil er angeblich, wie es sein Kollege Friedrich Schleiermacher formulierte, feige und provokant gehandelt habe.

In Fichtes Augen hatte der Junge sich genau richtig verhalten! Die Universität ist kein Ort primitiver Duellkämpfe. Statt auf die Provokationen der beiden Studenten einzugehen, war Brogi zum Rektor gegangen, um sein Recht einzufordern. Doch im Senat wurde dafür gestimmt, den Jungen ebenfalls zu bestrafen. Nicht, weil er Unrecht begangen hatte, sondern weil er ein mittelloser Jude war – dem war sich Fichte gewiss.

Ihn wühlte der Fall Brogi so sehr auf, weil er sich an seine eigenen Schwierigkeiten während der Schulzeit erinnert fühlte, den Diskriminierungen, denen er sich aufgrund seiner ärmlichen Herkunft ausgesetzt sah. Hätte nicht der Gutsherr Haubold von Miltitz sein großes Talent erkannt, hätte er niemals selbst anständige Bildung genießen können. Und weil nicht jedem der Zufall so hold sein kann wie ihm selbst, setzte er sich zeitlebens dafür ein, Bildung für jedermann zugänglich zu machen. Fichte sehnte eine „Epoche der Vernunftkunst“ herbei, in der Bildung keine Frage der Religion, des Standes oder des Geschlechtes mehr ist. Denn Fichte glaubt fest daran, dass der freie Zugang zu Wissen die Vernunft der Menschen schulen und den Charakter so ausbilden kann, dass sie fähig sind, ihren inneren Überzeugungen gemäß zu handeln, ohne sich von Autoritäten und Ideologien beeinflussen zu lassen. Als Hauslehrer, als Professor und zuletzt auch als Rektor hatte er immer versucht, seine Ansichten zu verbreiten – und war dabei stets auf Widerstand gestoßen. „Vielleicht war das ein wenig idealistisch von mir …“, denkt Fichte jetzt, „angesichts der hochgradigen Verfehlungen meiner gelehrten Kollegen und der politischen Situation …“ Johann Gottlieb Fichtes Zweifel kommen einer Resignation nahe. War er am Ende an seinem Anspruch gescheitert, ein vorbildlicher Gelehrter zu sein, der seinen Mitmenschen die Augen öffnet?

Doch Fichtes Einsatz für den Studenten Brogi verfehlt seine Wirkung nicht. Sein Nachfolger Friedrich Carl von Savigny, der auch während der Brogi-Klaatsch-Affäre eher auf Fichtes Seite gestanden hatte, wird ihm recht geben, seine Anerkennung aussprechen und Brogis Strafe von 8 auf 3 Tage Karzer kürzen. Auch Fichtes Kritik an Napoleon, an die strenge Zensur und die Willkür der absolutistischen Staaten wird die Grundsätze der Universität verändern.

Was kurz danach geschah:

1814: Fichte stirbt im Alter von 52 Jahren überraschend am Lazarettfieber. Er wird auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zu Berlin begraben. Im selben Jahr wird Napoleon als Kaiser abgesetzt.

Ein unsterblicher Satz:

Es ist eine abgeschmackte Verleumdung der menschlichen Natur, daß der Mensch als Sünder geboren werde.“

Im November erwacht zum Leben: Henriette Herz, die einen der führenden literarischen Salons der Frühromantik in Berlin betrieb.

Teil 1: Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951)

Von 1906 – 1908 Maschinenbau-Student an der Königlich Technischen Universität zu Berlin

Wittgenstein+in+1905+$28aged+16$29Es war irgendein Montag in irgendeinem Monat im Jahr 1907, als der 18-jährige Ludwig einen folgenschweren Entschluss fällte. Entscheidungen hatten bis dato immer andere für ihn übernommen. Sein Vater Karl, der Stahlmagnat, war einer der reichsten Männer in Österreich-Ungarn. „Geh nach Berlin! Mach deinen Doktor!“, hatte der gesagt. „Werd Unternehmer! Wie dein Vater!“, setzte er nach.

Der Vater war kein Mann der vielen Worte, er ließ Taten sprechen. Und Musik. Richard Strauss, Gustav Mahler und Johannes Brahms gingen bei den Wittgensteins in Wien ein und aus und Paul, Ludwigs exzentrischer Bruder, war ein Virtuose am Piano. „Ein Künstler und zwei Freitote in der Familie genügen!“, hatte der Vater gesagt.

Ohnmächtig war Ludwig dem Wunsch des Vaters gefolgt. Auch wenn er tief im Inneren spürte, dass ihn ganz andere Geister umgaben. Es war gerade mal drei Jahre her, dass sein ältester Bruder Rudolf sich hier in Berlin das Leben genommen hatte. Ein lebensmüder, homosexueller Lebemensch und der beste Bruder der Welt – verlebt. Viel zu schnell.

Ludwig fand in sich die ernüchternde Erkenntnis, dass alles, was ist, viel zu schnell verfliegt, wie ein betörender Geruch oder ein schöner Augenblick.

Wie lässt sich das Gewesene konservieren? Und was ist beständig?

Wenn wirklich gar nichts bliebe, würde Ludwig nicht länger zögern und es seinem Bruder gleich tun!

Ludwig fuhr hoch. Vom eigenen Gedanken erschrocken. Der hochverehrte Professor Georg Schlesinger stand am Pult und erzählte etwas über DIN 8580 ff. Oder DIN 69651? Genau genommen interessierte es Ludwig nicht. Es war auch gar nicht sein Gebiet, hatte er sich doch auf flugtechnische Fragen spezialisiert. Er wollte bald einen Flugzeugmotor bauen. „Wenn alles verfliegt“, dachte er, „dann will ich wenigstens mit!“.

Ein durchaus konsequenter Entschluss, doch seine Gefühle und Gedanken flogen chaotisch durcheinander.

Spielt es eigentlich so eine große Rolle, was man sagt, wenn man weiß, wer man ist?“, dachte er. „Erklären wir uns mit unserem Gefasel nicht vielmehr ununterbrochen selbst, dass wir keine Antworten auf irgendetwas haben, und uns unsere Ungewissheiten und Zweifel nur tot zu reden versuchen.“ – Ludwig dachte zu viel nach. Doch im Nachdenken fand er am ehesten den Ruheort, den ihm weder Familie noch Studium geben konnten. „Die Abstraktion des Unaussprechlichen“, dachte er jetzt, „ist in seiner Irrelevanz das eigentlich Ehrliche.“, und strich dabei sanft über den Rücken eines Buches. „The Principles of Mathemathics“, sagte er.

Wie meinen?“, wollte Professor Schlesinger wissen. Ludwig erschrak. Er hatte nicht bemerkt, dass der Dozent neben ihm stand und ihn herausfordernd beäugte. Ludwig erhob sich von seinem Sitzplatz. „The Principles of Mathemathics“, wiederholte er, während er das Buch in die Höhe hielt, „von Bertrand Russell.“

So, So …“, sagte der Professor, „Nun setzten Sie sich mal wieder hin, ja?“

Einige Kommilitonen lachten. Ludwig musterte sie mit einem so durchdringenden Blick, dass sie augenblicklich wieder verstummten. Er wollte diesem Professor Schlesinger ja gern besser zuhören. Aber er wollte auch gern diesen Bertrand Russell kennenlernen. Alles wäre so viel einfacher, wenn er einfach diesen verflixten Flugzeugmotor bauen würde. Wenn die düsteren Gespenster hinter seiner Stirn endlich Ruhe geben würden, dann würde es ihm vielleicht als einzigen Wittgenstein-Bruder mal gelingen, ein ganz normales Leben zu führen. Ohne Exzesse, Freitod und Manien. Aber es half nichts. Er war ein Wittgenstein. Ludwig Wittgenstein. Und er wird seinen Weg gehen …

Was kurz danach geschah:

1908: Diplom Maschinenbau

1911: Studium bei Bertrand Russell, Cambridge (UK)

1922: Veröffentlichung des „Tractatus Logico-Philosophicus

Ein unsterblicher Satz:

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Im September erwacht zum Leben:

Johann Gottlieb Fichte – Kant-Verehrer, Wissenschaftstheoretiker, Freimaurer, Napoleon-Gegner und erster Rektor der Berliner Universität zu Berlin

 

Ein Walkman auf Entzug (Aus der Bahn 5 / 12)

Foto0377Hochgeschaukelt von frühlingshaften Gefühlen setze ich mich auf Bahnentzug und atme bei einem Spaziergang belebende Liebesluft.

Der Wintermantel landete auf dem Zwischenboden und die Stiefel wurden mit  Trainingsschuhen getauscht. Mein Körper fühlt sich zehn Kilogramm leichter an. Und diese Bewegungsfreiheit in den Frühlingsklamotten! Endlich kann die Haut wieder atmen. Nicht nur der Körper, auch der Geist genießt den Sauerstoffcocktail. Im Gleichschritt gehen Körper und Geist mit mir spazieren. Mal sehen, wohin sie mich heute führen.

Ein Liebespaar am Arnimplatz. Das scheint den Geist zu interessieren. Ich halte an. Der Kopf dreht sich. Eine Parkbank. Schon sitze ich. Meine Augen verfolgen ein junges Paar, das sich am Sockel des Bettina und Achim von Arnim-Denkmals niedergelassen hat. Träumen sie oder lassen sie ihre Blicke in die Weite schweifen? Sehen wir hier den Ausgang einer anregender Auseinandersetzung, die sich dem Schweigen ergab? Oder genießt das Liebespaar die letzten Momente vor einem längeren Abschied?

Das in Bronze gegossene Dichterpaar wacht über das junge Glück zu ihren Füßen. Die Liebenden halten Inne, als die Statue zum Leben erwacht. „Nicht fester hängt die Pflanze an der Erde, Als ich von deiner Nähe festumschlossen werde.“, haucht Achim von Arnim und lässt sich in den Schoß seiner Frau fallen. „Es ist mein Auge vor ihm zugesunken,
Der mich so seltsam mit dem Blick umwoben, In seinem Lichte lieg ich traume-trunken.“
, flüstert Bettina und streichelt über den Kopf ihres Mannes. Als das Paar zu ihren Füßen sich regt, nehmen Achim und Bettina schnell wieder die alten Positionen ein.

Bevor ich mich auf den Heimweg mache, gehe ich ganz nah an den Beiden vorbei und ziehe mir Liebe durch die Nasenflügel. „...Liebe ist die Luft, die wir trinken.“ Sie schmeckt nach Lavendel und Schnittlauch. Unglaublich. Im Winter roch Liebe für mich nach Achselschweiß. Ich erinnere mich an zwei Küssende, die mir im Januar im Nacken hingen und mich dermaßen zur Weißglut brachten, dass ich beinahe den Platz gewechselt hätte. Entschied mich dann aber dagegen. Toleranz schulen, dachte ich, ist das erste Gebot eines jeden Berliners.

(Veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Mai 2014)

Schneeglöckchen-Revolution (Aus der Bahn 4 | 12)

FrühlingManche liebt man. Andere hätte man lieber lieben wollen. Wieder andere liebt man unbemerkt. An sie denke ich am Liebsten.

Wenn Winter und Sommer sich gemäß ihrer alljährlichen Tradition zu einem klandestinen Stelldichein treffen, dann ist der Frühling da. Die stürmische Liebesaffäre zwischen den zwei Jahreszeiten verblüfft uns jedes mal aufs Neue, wenn wir Zeugen ihrer unermüdlichen Sehnsucht werden. Wie oft hat der Sommer den Winter schon vor die Tür gesetzt? – Mal nach einem ausgiebigen Liebesurlaub, mal nach einem Quickie im Gebüsch. Doch in der Liebe sind wir alle unbelehrbar.
Als zum ersten Mal in diesem Jahr die Sonne zärtlich meinen Nacken streichelt, erwache ich wie ein Schneeglöckchen, das sich energisch aus dem Erdreich kämpft. „Schau dir die Sonne an!“, ermuntere ich meinen Sitznachbarn in der S-Bahn. Er lächelt mich an, wir strahlen gemeinsam zur Sonne; dann lassen wir schnell wieder unsere Köpfe hängen. Schneeglöckchen eben.
„Das ist der erste Tag in meinem Leben!“, denke ich, weil ich ein Dutzend anderer erster Tage vergessen habe. Wenn der Winter die Jahreszeit des Vergessens ist, dann wird im Frühling mir das Vergessen meines Vergessens gewahr. Im April sprießen die wilden Erinnerungen. Ich durchlebe die Liebesgeschichten, die ich über Monate erfolgreich verdrängte. Die abgehefteten Liebeserklärungen der vergangenen Lenze liegt als dicker Papierstapel auf meiner Brust. Mein Herz zerspringt! Alles springt!
„Spring!“, rufe ich einem Touristen beim Aussteigen zu und lache noch an der nächsten Straßenecke über sein verdutztes Gesicht. Jeder Gedanke ein Ausruf! Ich möchte den restlichen Weg gehen, dann laufe ich und vergesse mich schließlich im Rennen. Leider will mein verwinterter Körper nicht wie mein sommerliches Gemüt. Ich gönne mir eine Verschnaufpause im Eisladen Cohlila in der Gleimstraße. Als ich meine Bestellung aufgebe, ‚weiße Schokolade-schwarze Olive‘, lächelt mich der Mann mit dem ‚Erdbeer-Minze‘-Eis an. „Tut mir leid, ich bin ein Schneeglöckchen!“, erwidere ich und senke verlegen den Kopf. Ich beiße in mein Eis und frage mich, wie wohl ‚Weiße Schokolade-schwarze Olive-Erdbeer-Minze‘-Eis schmecken würde. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich mich dem Fremden um den Hals werfen und die Erdbeer-Minze von seinen Lippen trinken! Zeit für eine Schneeglöckchen-Revolution! Auf einen Frühling auf Lebenszeit!

(Veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, April 2014)

Die orangen Füchse von Berlin (Aus der Bahn 1 |12)

f4193853Zwei ältere Herren in orangen Westen stehen um zwei Uhr nachts auf den Stufen des S-Bahnhofes Prenzlauer Allee und befreien sie vom Großstadtschmutz.

Eine Kaskade erschleicht ihren Weg in den Abgrund. Keine Zikade begleitet den ruhigen Fluss. Fast lautlos, kein Platschen, kein Tropfen, nur ab und an das Geräusch der hölzernen Besenstiele, die an die steinerne Bahnhofswand stoßen. Klack, Klack. Im Takt. Sieht so das Glück aus? Ruhe durchströmt mich. Ein Gedanke von Harmonie. Alles im Einklang. Natur im dreckigen Großstadtwald. Hyänen stampfen links und rechts an den orangen Männern vorbei, beeinflussen den Fluss des Wassers, zerstören den Takt der Besen. Wie scheue Füchse, die ihren Rivalen mit Ehrfurcht gegenüber stehen, gelähmt von der souveränen Ziellosigkeit der nächtlichen Jäger, halten die Männer Inne und warten bis der Ansturm vorüber ist. Sie wollen sich an Wänden entlang schleichen; tun, was sie tun müssen; nicht gestört werden. Sie wollen unsichtbar sein.

Als die Bahn einfährt, folge ich widerwillig den Hyänen in den leeren Wagon. Grelles, weißes Licht verhört mich: Wo willst du hin? – Ich weiß nicht… Zum Glück bestimmen die Gleise den Verlauf. Ich sitze auf einem Dreiersitz im Durchgang und starre sinnlos aus dem Fenster. Da ist nichts. Was suchst du? In jeder Kurve windet sich neben mir das akkordeonförmige Verbindungsglied und lässt den S-Bahnmagen knurren. Ich sitze im leeren Bauch eines Tausendfüßers. Die Heizungsluft kleidet meine Kehle mit Schleifpapier aus. Das Gliedertier kommt ins Stocken und ich schleich‘ mich fort auf leisen Socken.

Die Ampel tickt nervös: Nun geh schon! Geh doch endlich! Ich denke daran, dass die BSR-Männer bestimmt eine Familie haben. Wenn ihre Kinder zur Schule gehen, kommen sie nach Hause. Wenn die jetzt Feierabend hätten, dann wüssten die wohin. Und ich stehe immer noch an dieser Ampel und beantworte ihr penetrantes Ticken mit dem Geknirsche unter meinen Winterstiefeln. Die fleißigen Füchse haben mir Sand ins Getriebe gestreut. Ich stehe hier wie ein Rennpferd in den Startlöchern und scharre mit den Hufen. „Pirschen statt knirschen!“, sagt die Ampel. Ich renne wiehernd in die Dunkelheit.

(Teil 1/12 aus der Reihe „Aus der Bahn“, veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Januar 2014)

Eine Geschichte vom roten Sofa auf der Böse Brücke

027_mauerfall_bornholmer_gapSoeben bemerkte ich einen Tick an mir, den ich seit geraumer Zeit umbewusst auslebe. Wenn der Großstadtstrom mich von Prenzlauer Berg in den Wedding spült und ich die Bornholmer Brücke, die eigentlich „Bösebrücke“ heißt, überquere, dann lasse ich mir auf ihrer Mitte von dem roten Sofa eine neue Wahnsinns-Geschichte erzählen.

Naja… gemütlich ist dieses Sofa nicht gerade. Das Gesäß rutscht die glatte, harte Oberfläche herunter. Man verharrt halbliegend. Dann folgt ein Rundumblick auf die hässliche, laute und unfallbelastete Stahlkonstruktion. Der Nazimief hängt an ihr wie der Namensgeber dieser Brücke, Wilhelm Böse. „Hier stand er und sammelte mit seiner Klapperdose Spenden für inhaftierte Antifaschisten.“, erzählt mir das Sofa. „Da drüben verkaufte er die „Rote Fahne“. Und ein paar Häuser weiter im Prenzlauer Berg hielt er hitzige KPD-Reden. Dafür wurde er 1944 gehängt!“ Wissbegierig folge ich den Ausführungen des sprechenden Sofas, als es sein Programm wechselt und singend durch die Zeiten springt:

Links, links, links, links! Die Trommeln werden gerührt!
Links, links, links, links! Der Rote Wedding marschiert!
Hier wird nicht gemeckert, hier gibt es Dampf,

Denn unsre Parole heißt Klassenkampf (…)

Auf der Westseite der Brücke tobte 1929 der Blutmai, bei dem unzählige Demonstranten von der Polizei erschossen wurden. Erich Weinert schrieb den tapferen Helden noch im selben Jahr diese Hymne. In der DDR erlebte das Arbeiterlied ein Revival.“ Das Sofa hält kurz Inne und verfällt in enthusiastische „Wahnsinn! Wahnsinn!“-Schreie. Es scheint einen Wackler zu haben. Völlig verständlich, dass ein Sofa, das auf der Bösebrücke steht, den Verstand verliert, denke ich. Wahrscheinlich hat es sich über die Jahre fuselig geredet.

Das verstehst du falsch!“, ermahnt mich der Bikeguide von der Mauerwegtour, der sich mittlerweile mit seiner Gruppe um das Sofa positioniert hat. „Das Rote Sofa ist eine Kunstintallation des Künstlerpaares Twin Gabriel und trägt den Namen „Mind the Gap“. Als Ostberliner 1989 freudig den ersten Grenzübergang an der Bösebrücke überquerten, schrieen sie „Wahnsinn! Wahnsinn!“. Diese Schreie schallten ursprünglich aus dem heute stummen roten Sofa!“

Egal, welcher Spalte unserer Geschichte man gedenken möchte: Auf der Bösebrücke wartet ein roter Rastplatz, auf dem jeder Passagier die guten und bösen Ausraster der letzten hundert Jahre an sich vorbeirasen lassen kann. Aber Vorsicht: Wer auf dem roten Sofa sitzt, droht Stimmen zu hören!

(Veröffentlicht in den „Prenzlberger Ansichten“, September 2013,)