Sinnlich und denkend zu neuen Lebenswegen

Michael Gutmann erzählt von seiner philosophischen Praxis in Berlin-Prenzlauerberg

PA: Herr Gutmann, unsere philosophische Reihe in den Prenzlberger Ansichten heißt „Vermessung des Denkens“. Glauben Sie, dass Denken sich vermessen lässt?

In der Sokratischen Philosophie gehört das Vermessen dazu. Das Maß als Kriterium der Beurteilung richtet sich in der Philosophie nach den Fragen des Guten, Schönen und Richtigen. Das ist ein qualitatives Vermessen, ein Bewerten, im Gegensatz zum quantitativem Vermessen der empirischen Wissenschaften. Denken braucht ein Maß, sonst ist es haltlos. Wir brauchen eine Orientierung.In der Psychologie und Philosophie gibt es meist nur ein subjektives Maß. Bei mir gibt es ein objektives Maß. Wenn sich jemand in seinem Denken in Widersprüche verfängt, dann ist sein Gedanke einfach falsch. Diese logischen Widersprüche versuche ich in meiner Philosophischen Praxis aufzudecken. Ich baue auf den logischen, einfachen drei Grundgesetzen auf: der „Satz der Identität“ sichert, dass man nicht von Hölzchen auf Stöckchen kommt, der „Satz des Widerspruchs“ besagt, dass a ungleich nicht-a ist, der „Satz des ausgeschlossenen Dritten“ besagt, dass a entweder a oder nicht-a sein kann, aber kein Drittes.  Da sieht man, wie eingeschränkt mein Denken ist. Ich lebe in diesem mesokosmischen Bereich, kümmere mich um Bereiche, die wir als Menschen sinnlich erfassen können. Ich bin kein Teilchen- oder Quantenphysiker, wo möglicherweise ganz andere Gesetze gelten. Ich kümmere mich nur um diesen Bereich menschlichen Lebens, Denkens und Verhaltens. Die Dinge, wofür wir, denke ich, in der Welt auch vorrangig da sind.

PA:  Für die Reihe „Vermessung des Denkens“ interessierten mich besonders die persönlichen Hintergründe philosophischen Denkens. Durch welche Fragen und Probleme wurden Philosophen zu ihren Werken motiviert? Wie sahen sie sich selbst? Da Sie mir nun gegenübersitzen: Welche Probleme und Fragen haben Sie in ihrem Leben zum philosophischen Denken motiviert?
Ohne es zu wissen, habe ich schon immer eine gewisse Freude an der Logik gehabt. Bauen, Planen, Schrauben: Vor meinem Philosophiestudium habe ich als Ingenieur gearbeitet. Mit 20 oder 22 habe ich mich gefragt, was mein Leben soll. Ich war geprägt von dem frühen Tod meines Vaters. Mir fehlte ein Mentor. Das hat später auch zu meinem Beruf geführt. Da ich aus philosophischen Schriften nicht richtig schlau geworden bin, habe ich zuerst versucht, meinen Fragen auf künstlerischem Weg näher zu kommen. Zwei, drei Jahre lebte ich auf dem Land und habe Tierkadaver, Schädel und Knochen gemalt und in Ton modelliert, weil mich die Vergänglichkeit und diese Sterbeprozesse interessierten. Meine Fragen haben mich 1985 nach West-Berlin geführt. Denn in Süddeutschland konnte ich nicht als Ingenieur und gleichzeitig als Philosoph arbeiten. Die hätten mir alle ’nen Vogel gezeigt. An der FU Berlin habe ich angefangen Philosophie zu studieren. Während des Studiums habe ich einen Lehrer gefunden, einen Privatdozenten. An dem bin ich dran geblieben und der hat mich auch an das Sokratische Denken herangeführt. Am Anfang hat mir Sokrates gar nicht gefallen. Der hat mich negiert und fertig gemacht. Aussagen wie „Staat ist gut“ entsprachen überhaupt nicht meiner Lebensrealität. Wir in Kreuzberg fanden den Staat scheiße. Lieben wollten wir leidenschaftlich und frei und konnten mit platonischer Liebe überhaupt nichts anfangen. Ich wollte Sokrates widerlegen. Das hat seine Zeit gedauert, bis ich sein Denken annehmen konnte. Der platonische Sokrates wurde irgendwann für mich das Gegenüber, das mit fehlte, mit dem ich auch, wenn ich allein zu Hause denke, in Dialog treten kann.

 PA: Das Sokratische Denken hat Sie auch dazu bewogen, eine Philosophische Praxis zu eröffnen. Seit 2001 praktizieren Sie im Prenzlauer Berg. Was ist denn eigentlich eine „Philosophische Praxis“?
Meine Philosophische Praxis ist ein Anlaufpunkt für Menschen, die sich mit ihren Fragen über das Leben, sich selbst und über zwischenmenschliche Bereiche an mich wenden können. Meine Praxis ist eine philosophisch-therapeutische Praxis. Sie richtet sich auch an Menschen, die sich unwohl fühlen.


PA: Welche Verfahrensweisen und Methoden nutzen Sie in Ihrer Praxis?
Anfangs gibt es ausführliche Vorgespräche. Ich schaue, ob es einen Weg gibt und wenn ja, dann mache ich demjenigen Mut. Wir treffen uns meist in Cafés oder in meinen Praxisräumen. Dann höre ich aufmerksam zu und wir erarbeiten gemeinsam die Fragen, die mein Gegenüber hat. Dann schauen wir, ob die Fragen gut sind, ob sie überhaupt zu beantworten sind; schauen, was das Anliegen einer Frage ist. Die Beantwortung geht innerhalb weniger Stunden. Ich weiß nicht, was die Psychoanalyse mit ihren 300 Stunden auf der Couch betreibt. Ich hab noch nie jemanden erlebt, der das hinter sich hat und der danach schlauer war als vorher.

PA: Was kann die Philosophische Praxis leisten, was ein Universitätsstudium oder eine Psychotherapie nicht leisten kann?
Wenn es in einem Universitätsstudium fähige Lehrende gibt, dann kann ein Studium durchaus das gleiche leisten. Nur müssen diese fähigen Lehrenden eben da sein. Und sie brauchen die Möglichkeiten, mit den Studierenden zu sprechen. Da reicht keine halbe Stunde im Semester. Was die Universität nicht bringt, kann ich dann bringen. Die Psychotherapie kann zum Teil ähnliches leisten. Es kommt sehr darauf an, ob der Therapeut gut ist, dann ist auch die therapeutische Schule unwichtig. Die existenzielle Psychotherapie von dem Psychiater Irvin Yalom finde ich beispielsweise großartig. Und die Logotherapie von Victor Frankl geht in eine ähnliche Richtung wie ich, dass sie in Ansätzen den Menschen beim Denken hilft. Diesen Ansatz verfolge ich mit der „Sinntherapie“, die ich auch in meiner Praxis anbiete. Mit Sinn meine ich den griechischen „logos“, also sowohl den kosmischen Sinn, der durch Naturgesetze, Harmonie und Ordnung – auch in der Musik – wiederzufinden ist, als auch den individuellen Sinn. Einerseits ist der Sinn des Lebens uns von Natur aus gegeben, andererseits stehen wir in der Verantwortung, unserem Leben selbst Sinn zu geben und zu fragen: Wofür bin ich da? Wofür will ich da sein?  Wenn einem Menschen Antworten auf diese Fragen fehlen, wird ihm das Leben leicht zur Qual.

PA: Brauch es denn zum Denken ein Gegenüber? Man stellt sich das Denken ja immer als einen furchtbar einsamen Prozess vor … 

Man braucht in der Jugend Mentoren, aber der erwachsene Mensch muss sich dann selbst im Leben zurecht finden. Ich bin sehr oft allein, ich denke allein, ich schreibe allein. Das Forschen allein gehört zum Leben dazu. Ich hätte aber auch liebend gern eine Forschungsgruppe, habe ich aber nicht. Also muss ich es alleine machen. Die berufliche Begegnung mit anderen Menschen ist dann der Part, wo ich das, was ich gelernt und gedacht habe, weitergeben kann. Ich brauche die Begegnung mit den anderen Menschen, sonst könnte ich nicht glücklich sein, auch um zu merken, dass geistiger Widerhall da ist. „Der Geist Gottes schwebt still über den Wassern“ – da hab‘ ich nichts davon. Ich brauch Menschen. Menschen sind eine Notwendigkeit. Ich brauche immer andere Ansichten, um das eigene Denken zu überprüfen. Ich habe beispielsweise intensiven Austausch mit einem Mann, den man ohne Weiteres als rechts abqualifizieren würde. Das ist aber immer nur der Prüfstand meines Denkens. Aus dem Widerstand und Konflikt, der sich daraus ergibt, lerne ich sehr viel.


PA: Im kommenden Jahr wird in den Prenzlberger Ansichten eine neue Reihe erscheinen mit Interviews und Portraits von Künstlern aus Prenzlauer Berg. Sie scheinen auch eine starke Beziehung zur Kunst zu haben. Beispielsweise bieten Sie ein „Theater gegen Angst“ an. Wie befruchten sich Philosophie und Kunst gegenseitig?
Um erfolgreicher Philosoph zu sein, muss man auch Künstler sein. Unter Kunst verstehe ich die Kreativität, das Meinen, das Glauben, die Fähigkeit Ideen zu entwickeln, auszuformulieren und zu gestalten; eine Vision aufzuziehen, einen Einfall zu haben, eine Inspiration. All das eigentlich, was das Leben für uns toll gestaltet; zu spinnen, verrückt zu sein und das auch in Worten auszugestalten. In dem therapeutischen Theater, das ich anbiete, geht es überhaupt nicht um Erkenntnis, da geht es um den Umgang mit Glaubenssätzen und unserem Verhalten. Da geht es mir darum, die Selbstsicherheit zu pushen. Das biete ich an, weil ich selbst die Theaterwelt liebe: da kann ich verrückt sein, da kann ich maßlos sein. Das ist mein Gegenpol zur Philosophie. Die Kunst ist vor der Philosophie da. Wir brauchen Worte, Sätze, Gedanken, über die wir nachdenken können. Wenn jemand die Welt erfährt und in Worte fasst, ist er für mich schon ein Künstler, ein Dichter oder Romanschreiber. Das gibt mir den Stoff, über den ich als Philosoph nachdenken kann.

Das „Theater gegen Angst“ findet das nächste Mal am 29.01.2017 im „Bühnenrausch“ in der Erich-Weinert-Str. 27 statt. Für diese und andere Angebote ist Dr.Michael Gutmann zu erreichen unter: 030/42807776 oder  mail@SokratesBerlin.de.
Mehr Informationen zu den genannten Angeboten von Michael Gutmann gibt es online unter:  http://sinn-therapie.com http://theater-gegen-angst.de.

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten,  Januar 2017)

Teil 15: Bazon Brock (* 1936)

„Selig sind, die da immer nur fernsehen wollen, angstfrei sind, die wissen, daß Bilder nicht beißen, wunschlos glücklich sind, denen auf Knopfdruck die ganze Welt vor Augen erscheint.“

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Bazon Brock , c by Schäfer 2006

In der September-Ausgabe schrieb ich über den Philosophen Armen Avanessian. Nach Byun-Chul Han, Philipp Ruch und Armen Avanessian stelle ich mit Bazon Brock nun den vierten Gegenwartsphilosophen vor. Bazon Brock betreibt seit 2011 in Kreuzberg die „Denkerei“ und liefert mit ihr einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Stadtleben.

Es scheint eine Eigenart der Gegenwartsphilosophie zu sein, sich über die akademischen Grenzen hinaus zu positionieren. Aktuelle Philosophen treten nicht mehr nur in Vorlesungssälen auf, um eine müde Studentenschaft mit antiquierten Termini zu bombardieren; ihre Themen kreisen nicht um metaphysische Probleme, die unsere geschichtliche und gesellschaftliche Lage gar nicht erst tangieren. Stattdessen äußern sie sich in politischen Talkshows oder verpacken ihre Botschaften in Kunstperformances. Neben den Philosophen Richard David Precht, Peter Sloterdijk und Slavoj Žižek ist Bazon Brock wohl eins der bekanntesten Gesichter dieser Medienphilosophen. Wobei die Begriffe Medien- oder Populärphilosoph auf Bazon Brock wohl nur in einem ganz bestimmten Sinne zutreffen: Seine Gesellschaftskritik fällt oft vernichtend aus, seine Kunst ist keineswegs massenkompatibel.

Als er 1959 an der Hamburger Kunsthochschule zusammen mit Friedensreich Hundertwasser und Herbert Schuldt eine „Endlose Linie“ zeichnete, löste das große Skandale aus. Die Linie war am Ende zehn Kilometer lang, sie ging über Wände und Türen eines Seminarraums und sollte vor allem eins ausdrücken: Akademische Kunst geht mir gegen den Strich. Bazon Brock wendet sich gegen die traditionelle, normative Ästhetik der Aufklärung. Er war in der Fluxus-Bewegung aktiv, beteiligte sich zu Beginn der 60’er Jahre auch an Kunst-Happenings mit Joseph Beuys. Nach Brock sollte Kunst nicht einer bestimmten Elite, sondern jedem Menschen zugänglich sein, frei nach dem Leitspruch von Beuys: Jeder Mensch ist ein Künstler. Er ist mehr Philosoph, denn Kunstwissenschaftler.

Wie sehr ihm die westliche Politik gegen den Strich geht, äußert Bazon Brock regelmäßig in Fernsehsendungen. Einige mögen sich noch an das Interview vor zwei Jahren zur „Männerfreundschaft“ zwischen Putin und Schröder erinnern, in dem er mit Inbrunst über die „Heuchlerei“ und „Verdorbenheit“ des Westens sprach. Die Moderatorin mag er in diesem Interview einigermaßen an die Wand geredet haben. Und das ist kein Wunder – schließlich bedeutet sein selbst gewählter Künstlername „Bazon“ auf Griechisch schlicht: Schwätzer. Bei seinen Auftritten übermittelt er implizit die Botschaft, man müsse frei reden, solange und wo man nur könne. Und er geht dieser Devise mit gutem Beispiel voran.

Bazon Brock mag es, mit Menschen aus verschiedensten Milieus zu diskutieren und streiten. Als Diskussionsforum dient ihm seit 2011 seine Berliner „Denkerei“.

Die Idee zur „Denkerei“ reicht bis in das Jahr 1968 zurück. In diesem Jahr gründete Bazon Brock während der Kasseler dokumenta 4 eine „Besucherschule“. Hier vermittelte der frisch gebackene Ästhetikprofessor Bazon Brock den Besuchern ein Verständnis der zeitgenössischen Kunst jenseits von Richtig und Falsch. Auch wenn seine Besucherschule 1982 eingestellt wurde, engagierte er sich weiter für die nicht-normative Kunstvermittlung. Seine „Denkerei“ in Berlin ist hierfür einer der wichtigsten Anlaufpunkte.

Die „Denkerei“ befindet sich am Kreuzberger Oranienplatz. Sie organisiert Veranstaltungen in den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft. Meist ist der Eintritt zur „Denkerei“ frei, erfordert jedoch eine vorherige Anmeldung. Eine empfehlenenswerte Veranstaltung ist in diesem Monat das vom 17.-18.11 stattfindende Symposium zur Gegenwart und Zukunft des Journalismus. Mit Gästen wie dem ZIP 2-Moderator Armin Wolf, dem Regierungssprecher Georg Streiter und der freien Journalistin Silke Burmeister wird Bazon Brock über neue Wege des investigativen Journalismus diskutieren. Die Veranstaltung möchte die hohe Bedeutung der Recherche in Zeiten von anhaltender Medienkritik und zugespitzter politischer Lage hervorheben.

Mehr zu Bazon Brocks Denkerei auf: www.denkerei-berlin.de

Im Januar 2017 werde ich zum letzten Mal über einen Berliner Denker schreiben. In der nächsten Ausgabe werde ich mich mit dem Philosophen Dr. Michael Gutmann beschäftigen. Gutmann betreibt in Prenzlauer Berg eine Philosophische Praxis, in der er therapeutische Ansätze mit der Philosophie von Sokrates vereint.

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, November 2016)

Teil 14: Armen Avanessian (*1973)

„Wir können in der Gegenwart nur anders handeln, wenn wir eine andere Zukunft entwerfen“

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Armen Avanessian, c by Senfex 2016

In der Ausgabe Juli 2016 begegneten wir mit Philipp Ruch einem Philosophen und Aktionskünstler, der mit dem „Zentrum für Politische Schönheit“ den Status Quo der europäischen Einwanderungspolitik kritisiert. Armen Avanessian (*1973) ist ebenfalls ein Berliner Philosoph, der durch die Fusion von Kunst und politischer Philosophie die Idee einer zukünftigen, postkapitalistischen Gesellschaft ausruft. Seine Methoden sind jedoch von denen des ZPS gänzlich verschieden: Avanessian strebt nach einer neuen Linken, die Technologien und Entfremdung positiv umdeutet, statt sie zu verteufeln.

Avanessian hat ein Faible für Neologismen. Akzelerationismus, Xenofeminismus, Hyperstition– was soll das nur alles? Hinter Avanessians Vokabular verstecken sich Ideen, die die Gegenwart von der Zukunft aus beleuchten. So meint Hyperstition eine Art „Überglaube“. Die gleichnamige Dokumentation, die unter der Regie von Christopher Roth Anfang diesen Jahres Premiere feierte, beschäftigt sich mit der Wahrheit als Wissenschaft und Erfindung („Truth is Science is Fiction“). Ideen für die Gegenwart werden aus der Zukunft hergenommen und dadurch zu (spekulativen) Realitäten. Auf diese Weise wird Gegenwart von der Zukunft aus erzählt. Voraussetzung hierfür ist, dass man sich den möglichen Entwicklungen nicht verschließt, sondern sie in seine Zukunftsvision einbezieht. Mit der Annahme, dass Wahrheit immer beides ist– Gegenwart und Zukunft, Wissen und Fiktion– geht der Aufruf einher, mit Hilfe der Wissenschaft eine lebenswürdige Zukunft vorzubereiten. Denn durch „Überglaube“ wird Spekulation zur Realität. Ein Bespiel für solch eine Theorie des spekulativen Realismus ist der Xenofeminismus, welcher für eine zukünftige Vielfalt von Geschlechtern kämpft. Der Grundgedanke geht u.a. auf die Technofeministin Shulamith Firestone zurück, die in den 70’er Jahren davon träumte, dass in Zukunft Maschinen männliche Privilegien und Geschlechterunterschiede beseitigen („The Dialectic of Sex“). Dank des technischen Fortschritts könne die Menschheit von der Tyrannei ihrer Biologie befreit werden. Doch man müsse die Menschen auf diese Entwicklung vorbereiten und dafür sorgen, dass zukünftige Technologien nicht in den Händen heutiger Machthaber blieben.

Vierzig Jahre nach Firestones revolutionärer Schrift „The Dialectic of Sex“ gibt es Staubsauger- und Fensterputzroboter. Das sind sicher nicht solche Erfindungen, welche der Kanadierin für die Zukunft vorschwebten. Technologien sind weiterhin eine Männerdomäne. Die Befreiung vom patriachalischen Kapitalismus und von diskriminierender Zwangsarbeit steht noch aus– unsere gegenwärtige Gesellschaft ist sehr viel rückständiger als sie es angesichts technischer Möglichkeiten sein könnte. Die Aktualität der technofeministischen Schriften erkannte Armen Avanessian und gab 2015 zusammen mit der Medienwissenschaftlerin Helen Hester den Sammelband „dea ex machina“ heraus. Er versammelt neben einem Auszug aus Firestones „The Dialectic of Sex“ Schriften von anderen Technofeministinnen wie Donna Haraway und Rosi Braidotti.
Die Grundlage für Hyperstition und Xenofeminismus bildet der Akzelerationismus. Acceleration bedeutet Beschleunigung. Während linke Theoretiker die Überwindung des Kapitalismus gemeinhin durch Entschleunigung erreichen wollen, plädieren Akzelerationisten wie Avanessian dafür, den Kapitalismus derart überzustrapazieren, dass er sich selbst ad absurdum führt und technologische Entwicklungen zu begrüßen und umzufunktionieren. Negativ konnotierte Begriffe wie der der Entfremdung werden von Akzelerationisten positiv umgedeutet. Statt in der Kritik der Gegenwart zu verharren, wie dies beispielsweise die Frankfurter Schule getan habe, solle in der realen Entfremdung das Potenzial der Freiheit erkannt werden. Schließlich bedeute die Begegnung mit dem Fremden auch eine Möglichkeit der Neugestaltung. Wer sich jedoch jeder Neubegegnung verschließt, sich entweder in die Vergangenheit zurückwünscht oder von einer übergeordneten Wahrheit ausgeht, handle gegenwartsfeindlich und entziehe sich der Mitgestaltung der Zukunft. Akzelerationismus ist also ein linkes, technophiles und revolutionäres Projekt. Seinen Ausgang soll es 2007 auf einer Konferenz am Londoner Goldtsmiths-College genommen haben. 2012 und 2013 erschienen in England erste Manifeste von Nick Land, Nick Srnicek und Alex Williams. Kurz darauf machte Armen Avanessian den Akzelerationismus in Deutschland populär. Seither arbeitet er mit Literaten und Künstlern zusammen. Seit einiger Zeit bestreitet er gemeinsame Veranstaltungen mit dem Berliner Zeichner Andreas Töpfer. Jeden Montag moderiert er zusammen mit der Schriftstellerin Julia Zange im „Berlin Community Radio“ die Sendung „60 Hertz“. In diesem Jahr war er auf der Berliner Biennale vertreten. Zusätzlich publiziert Avanessian alle zwei Monate eine neue Schrift. Vom akademischen Betrieb hat er sich weitestgehend abgewandt, nachdem er ab 2007 an der FU Berlin und anschließend an verschiedenen Kunstakademien unterrichtete.

Mehr zum Akzelerationismus gibt es nachzulesen in: #Akzeleration, Merve Verlag Berlin 2013. Aktuelle Vorträge, Workshops und Buchprojekte zur „Spekulativen Poetik“ mit und um Armen Avanessian gibt es online auf: www.spekuative-poetik.de

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, September 2016)

Teil 13: Philipp Ruch (*1981)

„Wir leben in einer Trockenphase der Weltgeschichte. Es gilt, sie mit Schönheit zu tränken.“

tiger_grossIn der Ausgabe Mai 2016 erfuhren wir von dem Berliner Philosophen Byung-Chul Han sein Rezept gegen die kranke Informationsgesellschaft: Denken und meditieren lernen. Auch unser heutiger Denker kritisiert den Kapitalismus. Doch Philipp Ruch belässt es nicht bei Worten. Auch „tiefe Langeweile“ liegt ihm fern. Der Philosoph und Aktionskünstler will Worte in die Tat umsetzen und Politik poetisieren.

Der 35-jährige Philipp Ruch hält seine eigene Generation für willenlos und ichbezogen. Deswegen gründete er 2008 das „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS).Mit Kunstaktionen versuchen Ruch und seine Mitstreiter gegen Politikverdrossenheit anzugehen. Über Facebook, Twitter, Youtube und Co. verbreiten sie die aktuellen Aktionen. Stets geht es dem ZPS um eine Vermischung von Wirklichkeit und Möglichkeit. So borgten sich die Aktivisten vor der 25-Jahrfeier des Mauerfalls (2014) vierzehn weiße Kreuze, die am Spreeufer aufgestellt worden waren, um den Mauertoten zu gedenken. Mit der zeitweiligen Entwendung der Kreuze wollte das ZPS an das tägliche Sterben an den EU-Außengrenzen erinnern. Die Aktivisten fotografierten zu diesem Anlass Flüchtlinge in Marokko mit den vermeintlichen Mauer-Kreuzen.
Philipp Ruch thematisiert mit Aktionen wie diesen auch die Grenzen der künstlerischen Freiheit. Für ihn sollte Kunst politisch und Politik schön sein. Deshalb nutzt er ganz Berlin als Bühne für seine Performances und zeigt, dass idealistische Kunst fähig ist, auf politische Entscheidungen einzuwirken. Als Künstler deutet Ruch mit seinen Inszenierungen über die Wirklichkeit hinaus; er zeigt nicht, was ist, sondern was sein sollte. Da seine Inszenierungen nicht von Schauspielern an Theaterbühnen, sondern von realen Menschen an realen Orten aufgeführt werden, gewinnen die „hyperrealistischen Aktionen“ des ZPS an politischer Relevanz.
Und seine Kunstaktionen werden von mal zu mal radikaler: Im Juni diesen Jahres warteten vier Tiger vor dem Maxim-Gorki-Theater darauf, bereitwillige Flüchtlinge zu verspeisen. Besucher konnten sich von der Existenz der Tiere überzeugen. Im Vornherein mögen es schon viele Menschen für unwahrscheinlich gehalten haben, dass es am 28. Juni tatsächlich zur angekündigten Verfütterung von Flüchtlingen kommen würde. Allerdings wird erst zum Erscheinen dieses Artikels feststehen, was sich an diesem Tag in den Tigerkäfigen abgespielt hat. Ähnlich unwahrscheinlich scheint die Meldung des ZPS, dass die Tiger vor dem Gorki-Theater aus Libyen stammten. Dies ist wohl eher eine Anspielung auf die sogenannten „Tiger“-Hubschrauber, welche die NATO unter anderem 2011 im Kampf gegen Gaddafi in Libyen einsetzte.
Mit ihren provokativen Falschmeldungen wollte das ZPS diesmal auf die Unmenschlichkeit von „2001/51/EG“ des Europäischen Rates und §63 des Aufenthaltsgesetzes der BRD aufmerksam machen. Demnach drohen all jenen Beförderungsunternehmen hohe Geldstrafen, die Menschen ohne gültige Einreisepapiere in die EU transportieren. Laut dem ZPS fördere diese Richtlinie das Geschäft von korrupten Schlepperbanden und Deutschland würde diese Unmenschlichkeit zusätzlich in §63, Abs.3 manifestieren. Die Kunstaktion „Flüchtlinge Fressen“ beabsichtigte jedoch nicht nur Provokation, sondern brachte auch einen Verbesserungsvorschlag zum Status Quo der Flüchtlingspolitik: Die Aktivisten forderten eine Europäische Luftbrücke, die geflüchteten Familien, die in Deutschland Recht auf Asyl haben, die Einreise erleichtert und Schlepperbanden das Handwerk legt. Zur Durchführung der Luftbrücke stellte das ZPS ein Flugzeug namens „Joachim 1“ und fand hundert Syrer, die als potenzielle Passagiere am 28.Juni von Izmir (Türkei) nach Berlin-Tegel fliegen würden. Ob sich die Bundesregierung dem Einflug der Flüchtlinge entgegen stellt, wird ebenfalls erst zum Erscheinen dieses Artikels entschieden worden sein. Jedoch steht schon jetzt fest, dass das „Zentrum für politische Schönheit“ ihrer vermeintlich lethargischen Generation mit Tatendrang und Willensstärke entgegenstrebt.

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Juli 2016)

Teil 12: Byung-Chul Han (*1959)

„Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein“

Byung-Chul-Han-foto

In der letzten Folge tauchten wir in das Leben des fast vergessenen DDR-Philosophen Georg Klaus ein. Der Kybernetiker hatte die Zukunftsvision von einem Informationszentrum, in dem weltweit verfügbares Wissen gespeichert wird. Die Kommerzialisierung des Internets erlebte Klaus nicht mehr, denn er starb bereits 1974. In Berlin-Schöneberg lebt heute ein Philosoph, der sich mit den negativen Folgen unserer Informationsgesellschaft auseinandersetzt: Byung-Chul Han. Er steht dem grenzenlosen Internet kritisch gegenüber. Byung-Chul Han sagt, die Fülle an Informationen macht uns müde und krank.

Byung-Chul Han ist in Seoul geboren. 1980 kam er nach Deutschland. Hier studierte er neben Philosophie auch Theologie und Literatur. Er promovierte zu Heidegger, obwohl er sich der Philosophie von Hegel näher fühlt. Seit 2012 ist Han Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der UDK Berlin. In den letzten vier Jahren ist er zum Vorzeigephilosophen der Stadt avanciert. Byung-Chul Han erscheint an erster Stelle, wenn man im Internet nach Berliner Philosophen sucht. Ob ihn das freut? Schließlich steht Han der Konsumgesellschaft sehr kritisch gegenüber.
In seinem Buch „Psychopolitik“ vertritt er die These, das neoliberalistische System unserer Zeit würde die Freiheit instrumentalisieren. Den Monopolen würden wir gegenüber stehen wie Leibeigene vor Feudalherren: Wir arbeiteten für sie und bekämen Land dafür. Die Feudalherren schlügen Profit aus unserer Arbeit und gäben uns das Gefühl, frei zu sein. Doch was als Freiheit empfunden würde, wäre in Wirklichkeit Zwang. Die Menschen täten sich so schwer, dagegen zu protestieren, weil sie das vermeintliche Freiheitsgefühl nicht als Zwang erkennen. Weil sie auf die Vorteile dieses Abhängigkeitsverhältnisses, auf billige Klamotten oder kostenlosen Zugang zu Social Media-Plattformen nicht verzichten wollen.
Byung-Chul Hans Zeitanalyse geht noch weiter. Seiner Meinung nach ist die digitale Gesellschaft eine Klassengesellschaft. Big Data-Firmen würden ihre Konsumenten nach Marktwert einteilen. Wer kreditunwürdig ist oder nicht fleißig konsumiert, ist in ihren Augen nichts wert. So hätten beispielsweise viele Hartz IV-Empfänger mit Angst und Scham zu kämpfen, da sie wie Müll behandelt würden. Das wiederum mache sie handlungsunfähig.
Auf die Psyche des Menschen habe die neoliberale Gesellschaft also fatale Folgen. Die Menschen würden liebesunfähig und müde, sie erkrankten an Burn-Out und Depressionen. Hans amerikanisiertes Geburtsland Süd-Korea weist heute die höchste Selbstmordrate weltweit auf. In Seoul gäbe es sogar Selbstmordseminare. Elektronische Trost-Botschaften, die an Brückengeländern befestigt sind, sollen die Einwohner vom Sprung in den Tod abhalten.
Was hat Byung-Chul Han dieser kranken Welt entgegenzusetzen?
Wo man mit ständiger Überforderung zu kämpfen hat, da gibt es dann vielleicht doch eine hilfreiche Methode aus Hans Geburtsland Süd-Korea: die buddhistische Meditation, die er in seinem Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ auch als „tiefe Langeweile“ bezeichnet. Sollen wir also üben, uns zu langweilen? Ist das die Lösung? Sollten wir nicht lieber auf die Straße gehen?
In einem Artikel in der SZ schreibt Han, warum er eine Revolution nicht für die Lösung hält. Er denkt nicht, dass der aktive Widerstand zu einer Besserung führt, weil der Feind heute unsichtbar sei. Ein Protest käme einer Demonstration gegen sich selbst gleich. Schließlich sei doch jeder nicht nur Opfer, sondern auch Täter des Systems. Stattdessen scheint das kritische Denken für ihn das beste Rezept zur Weltveränderung. Denn Denken kann nach Han sehr explosiv sein. In einem Interview sagt er, das Basteln an Gedanken wäre „vielleicht gefährlicher als die Atombombe“. Ruhig schlafen könne er trotzdem nicht. Und die Frage, ob er glücklich sei, stelle er sich gar nicht.

Aktuelles zu Byung-Chul Han:
Isabella Gressers Film „Müdigkeitsgesellschaft“ bei dem Prenzlberger Verlag Matthes&Seitz erhältlich. Die Videokünstlerin Isabella Gresser begleitete in Ihrem Film den Philosophen Byung-Chul Han in Berlin und Seoul. Bei dem „Achtung Berlin“-Festival 2015 in Berlin erhielt der Film den ökumenischen Jury-Award.

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Mai 2016)

Teil 11: Georg Klaus (1912-1974)

Ein Querdenker in der DDR

klaus_georgIn der letzten Folge begleiteten wir den Psychoanalytiker Wilhelm Reich auf seinem steinigen Weg in das amerikanische Exil. Ebenso wie Reich, war auch der Kybernetiker Georg Klaus zeitgleich aktives Mitglied der KPD. Doch im Gegensatz zu Reich, entging er der politischen Verfolgung nicht durch Exil, sondern saß seine Gefängnisstrafe im Konzentrationslager Dachau ab. Danach begann er eine scheinbar vorbildliche Karriere als DDR-Wissenschaftler – bis ihm auch die kommunistische Diktatur zum Verhängnis wurde …

Nach Kriegsende setzt Georg Klaus seine politische Karriere bei der SED fort und nimmt ein Studium in Jena auf. Zu seinem Lehrer gehört der Logiker Max Bense, der ihn mit der Kybernetik bekannt macht. Die Kybernetik ist zu dieser Zeit eine sehr junge Wissenschaftstheorie, als dessen Begründer der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener gilt. Als Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen ist die Kybernetik ein Vorbereiter der Informatik. Forschungsschwerpunkt der Kybernetik ist jedoch nicht nur die künstliche Intelligenz, sondern auch die Steuerung sozialer Prozesse. Klaus‘ wird von nun an bemüht sein, die neuartigen Ansätze der Kybernetik für die Ost-Politik zweckdienlich zu machen.
Vorerst dient ihm zur Verbreitung seiner systemtheoretischen Theorie eine Professur für historischen Materialismus an der Berliner Humboldt Universität. Ab 1953 ist ihm der Lehrstuhl für Logik und Erkenntnistheorie inne. Zu dieser Zeit ist der Philosoph 
Heinz Liebscher Student bei Klaus. Nach seinen Aussagen, sei Georg Klaus zu jeder Zeit bewusst gewesen, mit wie viel parteitreuen Formulierungen man eine Forschungsarbeit füttern müsse, um dem Geschmack der obersten Instanz gerecht zu werden. Seine erste Schrift zur Kybernetik erscheint 1961: „Kybernetik in philosophischer Sicht“ erreicht bis 1964 vier Auflagen. Diese und weitere Veröffentlichungen zur Kybernetik stellen in den Augen des DDR-Regimes eine verkappte Annäherung an den amerikanischen Geist dar. Nicht nur wendet sich Klaus gegen die Verschleierung politischer und philosophischer Wahrheiten durch die Partei. Auch ist die von Klaus angestrebte „Soziokybernetik“ zeitgleich in den USA durch Rudolf Carnap en vogue, und wird einige Jahre später mit dem westdeutschen Soziologen Niklas Luhmann populär werden.
Klaus sieht trotz seiner aufrichtigen marxistisch-leninistischen Einstellung keinen Grund, der Wissenschaft Grenzen aufzuerlegen. Als Wissenschaftler hat er die Vision, jedem Menschen einen freien und unbegrenzten Zugang zu Wissen zu ermöglichen.
Unter 
Walter Ulbricht wird die Kybernetik Ende der sechziger Jahre kurzerhand in „marxistisch-leninistische Organistationswissenschaft“ umbenannt. Ulbricht versucht auf diesem Wege, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Steuerungssystemen für sich zu nutzen. Die transformierte DDR-Kybernetik ist jedoch nicht mehr im Sinne Klaus‘. Er arbeitet in den Siebzigerjahren an einem demokratischen System, welches ein unverfälschtes Wahlergebnis garantieren soll. Ihm schwebt ein Abstimmungsapparat vor, der in jedem DDR-Haushalt installiert wird, um die politische Mitsprache der Bürger zu fördern. Während der Informationsübermittlung soll die Richtigkeit der Abstimmung geprüft werden. Mit der Vorarbeit für diesen Wahl-Computer fordert Klaus das demokratische Selbstverständnis der DDR heraus – und geht im Kampf um einen „besseren“ Sozialismus als Verlierer hervor. 1971 beginnt Georg Klaus‘ – von Staatswegen beschlossene – Abwendung von der Kybernetik. Im Land wird er nunmehr bestenfalls geduldet; an der Universität, mehr als zuvor, seiner wissenschaftlichen Freiheit beraubt.
Wer nun vorschnell meinen mag, Klaus‘ könne aufgrund der ideologischen Färbung seiner Schriften, die wissenschaftliche Integrität abgesprochen werden, unterschätzt womöglich sein demokratisches Engagement. Nach seinem Verständnis zeichne sich ein ideale Sozialismus nicht nur durch Interdisziplinarität, sondern auch durch freien Wissens-Zugriff aus. 1974 erscheint sein Aufsatz „Zukunftsperspektiven“, in dem er unter anderem die Vision von „Informationszentren, in denen im Prinzip das ganze gegenwärtige Wissen der Menschheit vorhanden ist“, formuliert. Auch seine weitere Weissagung ist heute bereits erschreckend wirklich geworden: „
In Zukunft wird man nicht mehr Zeitung lesen. Unsere hypothetische Informationszentrale wird eine Riesenzeitung für die ganze Welt herausgeben, die jedem das gibt, was er benötigt.“
Seine letzten Lebensjahre verbringt Georg Klaus in Berlin-Wilhelmshagen. Er stirbt 1974 im Alter von 61 Jahren an einer Gelbfieberinfektion.
(Mehr zur Kybernetik in der DDR gibt es nachzulesen in dem Sammelband: „Kybernetik steckt den Osten an“, Trafoverlag, Berlin, 2007.)

Was danach geschah:
– bis 1987: in vierzehn Auflagen erscheint das „Philosophische Wörterbuch“, das von Georg Klaus und Manfred Buhr herausgegeben wird.
– 2011: der Schriftsteller 
Marc Schweska verarbeitet Klaus als Figur in seinem Roman „Zur letzten Instanz“.

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, März 2016)

Teil 10: Wilhelm Reich (1897-1957)

… ein planetarer Arzt“

wilhelm ReichIn der letzten Folge blickten wir zurück auf die Begegnung zwischen Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey in Berlin. Beide Philosophen kritisierten die Verdinglichung des Menschen durch die Naturwissenschaften. Mit der Phänomenologie wurde der Mensch in der Philosophie nicht mehr als objektiver Körper behandelt, den man zerlegen und erklären kann, sondern als fühlendes, denkendes, wollendes Wesen mit leiblichen Erfahrungen. Keine logischen Operationen, sondern praktische Beobachtungen sollten Erkenntnisse darüber liefern, was der Mensch eigentlich ist. Die Psychoanalyse nach Sigmund Freud leistete hierzu einen wichtigen Beitrag. Er teilte die Psyche in Ich, Es und Über-Ich und zeigte damit, dass nicht nur Intellekt, sondern auch Trieb und Erziehung einen Einfluss auf die Seele des Menschen üben.

Wilhelm Reich war ein Schüler Freuds. Er radikalisierte Freuds Libidotheorie; machte aus ihr eine Orgasmustheorie. Die Unterdrückung sexueller Bedürfnisse führten nach Reich dazu, dass 90% der Frauen und 60% der Männer Orgasmusstörungen hätten. Dies begünstige Neurosen, welche nicht nur persönliches, sondern vor allem gesellschaftliches Leid erzeugten. Eine Folge dieser kollektiven Sexualstörung sei der Faschismus. In der Konsequenz gab Wilhelm Reich 1930 seine ärztliche Privatpraxis in Wien auf, um in Berlin aktiv gegen den Faschismus zu kämpfen.
Ist Faschismus eine Krankheit?
– 1929 äußert Wilhelm Reich diese Vermutung vor dem „inneren Kreis“ seiner Kollegen. Das Treffen findet in Sigmund Freuds Privathaus statt. Der psychoanalytischen Vereinigung käme die Aufgabe zu, wirtschaftliche und sexuelle Veränderungen des Lebens einzuleiten, sagt er; der „epidemischen Verbreitung der Neurosen“ müsse man entgegensteuern. Dies sei nur durch politische Aktivitäten außerhalb der Privatpraxis umsetzbar. Damit fordert er von seinen Kollegen, die ganze Gesellschaft als Patienten wahrzunehmen und sich dem entsprechend zu engagieren.
Die Freudianer reagieren mit Zwischenrufen. Doch Wilhelm Reich lässt sich dadurch nicht beirren; bringt stattdessen einen weiteren kritischen Punkt auf die Tagesordnung. Der ein oder andere ahnt schon, worauf es hinauslaufen wird. Wieder einmal betont er, wie wichtig die Aufklärung der Arbeiterschicht sei. Man müsse aus seinem geschlossenen Kreis ausbrechen. Er selbst ist ja schon mit gutem Beispiel voran gegangen, hat in Wien acht Jahre lang im „Psychoanalytischen Ambulatorium für Mittellose“ gearbeitet. Doch Freud und seinen Anhängern missfällt diese Form politischen Aktivismus. Sie protestieren erneut. Wilhelm Reich versucht sie zu beruhigen. Er ist selbstsicher. Später wird man ihn auch als stur und exzentrisch bezeichnen.
Nach diesem Treffen kommt es zum endgültigen Zerwürfnis zwischen ihm und Freud. Reich wird sich davon noch schwer gekränkt zeigen. Doch vorerst führt er das Missverständnis auf die reaktionäre Gesinnung seiner Kollegen zurück. Warum sollten Ärzte keine Politik machen? Warum keine sexuelle Revolution initiieren? Wenn er im vornehmen Wien keine Verbündeten für seine Vorhaben finden kann, dann wird er es eben in Berlin versuchen. Dort sind die Menschen doch sowieso viel offener. Und weil Großstadtbewohner bekanntlich besonders stark unter stressbedingten sexuellen Stauungen leiden, wird er sicher auch genügend Patienten für sich gewinnen können.

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Künstler: William Steig

1930 zieht Wilhelm Reich nach Berlin. Er tritt dem Verein „sozialistischer Ärzte“ bei. Im Januar 1931 ruft er die Ärzte des Vereins in einer Rede dazu auf, sich für die sexuelle Befreiung der Bevölkerung einzusetzen. Mittlerweile ist Wilhelm Reich auch Mitglied der KPD und hat die Massenorganisation „Sexpol“ („Reichsverband für proletarische Sexualpolitik“) gegründet.
Zeitgleich arbeitet Wilhelm Reich in Berlin an einer freudo-marxistischen Analyse. Doch während seiner Reden teilt er mit seinen Partei- und Arbeitskollegen bereits jene Zukunftsvisionen, die erst 1933 mit „Massenpsychologie des Faschismus“ einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sein werden. Sein politischer Kampf gilt patriarchalen Familienstrukturen, und den Verboten von Homosexualität und außerehelichem Sex. Diese gesellschaftlichen Normen seien hauptsächlich dafür zuständig, dass Menschen ihre unterbewussten Bedürfnisse von Geburt an derart unterdrückten, dass sie nun gewaltsam auszubrechen drohen. Sadistische Neigungen könnten zu Fremdenhass, und Fremdenhass zu Krieg werden; sexuelle Frustration dazu führen, dass man sich die Befriedigung auf Umwegen verschafft; in der Massenekstase zum Beispiel, und der Anbetung einer Führerpersönlichkeit. Autoritäre Erziehung führt dazu, dass so viele Menschen zu Anhängern einer autoritären Ideologie werden. Eine repressive Ordnung entspricht ihren erworbenen Prägungen von Entsagung und Selbstkontrolle. Viele seien deshalb nicht imstande ein politisches Bewusstsein auszuprägen. Stattdessen handelten sie affektiv und neurotisch. Der Faschismus habe einen Weg gefunden, diese Charakterschwächen auszunutzen. Deshalb sei sexuelle Aufklärung und der Kampf gegen Neurosen der einzige Weg, einer Nazi-Invasion entgegenzuwirken.
1934 schließt die KPD Wilhelm Reich aus ihrer Partei aus. Seine Ideen von Familie und Sexualität widersprechen der stalinistischen Ideologie. Im selben Jahr unterschreibt auch Sigmund Freud Reichs Ausschluss aus der IPV. Er wird zum politisch Verfolgten, verlässt Berlin, flieht erst nach Schweden, dann nach Dänemark, danach nach Norwegen. Asyl erhält Wilhelm Reich erst 1939 in den USA.

Was danach geschah:
1940: Wilhelm Reich entdeckt die Lebensenergie „Orgon“ und entwickelt Orgon-Akkumulatoren, die unter anderem in der Krebstherapie eingesetzt werden sollten.
1951: im Oranur-Experiment forscht er zur Neutralisierung radioaktiver Strahlung. Nach einem Unfall entwickelt Reich erst den DOR-Buster und dann den Cloud-Buster, mit denen er „tödliche Orgonenergien“ bekämpfen möchte. Die Atomlobby beginnt, seine Arbeit zu behindern.
1955: gerichtliches Verbot der Orgon-Akkumulatoren und Verbrennung seiner Bücher.
1956: Verhaftung wegen „Missachtung des Gerichts“.
03.11.1957: Wilhelm Reich stirbt während der Haft in Lewisburg, Pennsylvania.
Posthum: seine Thesen werden während der 68’er Bewegung wiederentdeckt.

Ein unvergesslicher Satz: „Ich bin dein Arzt, und da du diesen Planeten bevölkerst, bin ich ein planetarer Arzt; ich bin kein Deutscher, kein Jude, kein Christ, kein Italiener, sondern Bürger der Erde.“

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Januar 2016)

Teil 9: Wilhelm Dilthey (1833-1911)

Wilhelm Diltheys folgenschwere Begegnung mit Edmund Husserl

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1905, ein Jahr bevor Hannah Arendt in Linden (Hannover) geboren wurde, kommt es in Berlin zu einem bedeutsamen Treffen zweier älterer Philosophen. Es soll über einen Paradigmenwechsel in der Philosophie diskutiert werden; der Eine hat ihn vorbereitet, der Andere soll ihn umsetzen …

Bei dem Älteren handelt es sich um den 74-jährigen Wilhelm Dilthey. Er ist seit zwölf Jahren Professor an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin. Die Stadt ist Dilthey vertraut. Hier hat er Theologie studiert. Nachdem er 1856 sein Staatsexamen abgelegt hatte, wurde er Lehrer am Joachimsthaler Gymnasium. Nach einer Promotion zur Ethik Schleiermachers folgte eine Habilitation zum moralischen Bewusstsein. Zusammen gerechnet hatte er nun schon ein Drittel seines Lebens in Berlin verbracht.
Der 46-jährige Edmund Husserl reist im Jahr 1905 von Halle an. Auch er kennt die Stadt, wenn auch weniger gut als Dilthey, von seinem Philosophie- und Mathematikstudium an der hiesigen Universität. Details des Treffens sind nicht bekannt. Es darf darüber spekuliert werden, welchen Datums und welchen Ortes sich das Treffen abspielt.Der Gegenstand des Gesprächs ist ein kürzlich erschienenes Werk Husserls, das den Titel „Logische Untersuchungen“ trägt. Der entscheidende Anteil Diltheys Schriften ist der Geschichtsphilosophie zuzuordnen, wie sie maßgebend von Friedrich Hegel und Karl Marx geprägt wurde. Er vertritt die Auffassung, dass jeder Ausdruck des Lebens in Philosophie, Kunst oder Religion nur im Kontext der Geschichte verstehbar ist. Hierzu zählt er die individuelle Geschichte der Urheber und die gesellschaftlichen Umstände. Seine philosophische Methode nennt er Hermeneutik. Die Wissenschaft, welche sich mit solchen „Ausdrücken des Lebens“ beschäftigt, und diese nach der hermeneutischen Methode vergleicht, beobachtet und zergliedert, bezeichnet er als Geisteswissenschaft. So gilt Dilthey als Begründer des Feldes der Geisteswissenschaften, wie wir sie heute kennen.
Angesichts der Bedeutung, die Dilthey um 1900 zukam, darf vermutet werden, dass Husserl sich einigermaßen geehrt fühlte, als ihn die Einladung nach Berlin erreichte. Doch welches Interesse mag Dilthey an Husserls Schrift haben, widmeten sie sich bisher doch anscheinend ganz unterschiedlichen Bereichen der Philosophie?
Zu allererst verbindet die beiden Philosophen das Interesse an der noch jungen Psychologie. Husserl ist als Schüler Franz Brentanos interessiert an einer psychologisch fundierten Philosophie. Auch logische Untersuchungen geschehen bei ihm deshalb unter psychologischen Aspekten. Ebenso fundieren Diltheys geschichtliche Untersuchungen auf psychologische Voraussetzungen. Für Dilthey ist also Geschichte ein Ausdruck der Psyche, für Husserl Logik. Berechtigt ist deshalb die Annahme, dass beide Ansichten sich verbinden lassen. Und so wird es auch kommen: Nach dem Treffen in Berlin werden Dilthey und Husserl in Briefkontakt bleiben. Dabei versuchen sie Missverständnisse aus der Welt zu schaffen. Den Vorwurf Husserls, Dilthey verfalle einem Historizismus und Psychologismus, weist Zweiterer von sich. Weder sei die Welt aus einer Geschichtsanalyse, noch aus einer Analyse psychischer Vorgänge verstehbar; es gehe vielmehr um die Wechselwirkungen und die Struktur, die sich aus der Analyse ergäbe. Mit einer Weltanschauungslehre versucht Dilthey zu verdeutlichen, welchen Einfluss unsere Bewusstseinsstrukturen auf das Welt-Verständnis haben und warum unsere Perspektiven sich mit der Zeit verändern. Nach ausgiebigem Austausch der Ansichten, einigen sie sich darauf, dass ihre Ansätze doch gut miteinander vereinbar seien.
So wird Edmund Husserl später erklären, dass Wilhelm Dilthey großen Einfluss auf seine Phänomenologie hatte. Er habe ihn zum „Husserl der Ideen“ gemacht, welcher sich nun nicht mehr logischen Ausdrücken widmet, sondern dem objektiven Gehalt der unmittelbaren Erscheinungen. Denn seines Erachtens wäre es durch eine „Wesensschau des Gegebenen“ möglich, unmittelbare Erkenntnis über das wahre Sein der Welt zu erlangen. Unter Einfluss Husserls wird auch Dilthey kurz vor Lebensende seine Arbeit zur Geisteswissenschaft noch einmal überarbeiten.


Was danach geschah:
– 1911: Husserl wird mit seiner Schrift „Philosophie als strenge Wissenschaft“ zum Begründer der Phänomenologie. Diese soll, wie die Diltheysche Geisteswissenschaft, ein Wissen der Wirklichkeit ermöglichen, das über den empirischen Erkenntnisgehalt der Naturwissenschaften hinausgeht
– 1.10.1911: Wilhelm Dilthey stirbt in Südtirol
– posthum: Wilhelm Diltheys Weltanschauungs- und Geschichtslehre übt und übte Einfluss auf viele Philosophen wie Heidegger, Adorno, Cassirer, Apel, Habermas und Gadamer


Ein unvergesslicher Satz:
„Das Verstehen ist ein Wiederfinden des Ich im Du.“

Weiterführende Literatur:
Einen lebhaften Eindruck von Diltheys „Philosophischem Traum“ erhält man online hier: „Ein Traum“ 

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, November 2015)

 

Teil 8: Hannah Arendt (1906-1975)

Von 1929 bis 1937 erste Ehe mit Günther Stern

 

arendt1924 begegnen Arendt und Stern sich zum ersten Mal auf Kant- und Hegel-Seminaren in Marburg. Günther Stern fällt Arendt durch seine intellektuelle Brillanz auf. Doch die 18-jährige Studentin hat nur Augen für ihren Professor. Mit Martin Heidegger pflegt sie ein erotisches Verhältnis. Es wird weitere fünf Jahre dauern, bis die ehemaligen Kommilitonen sich in Berlin, fern vom ewigen Nebenbuhler Heidegger, auf einem Tanzball näher kommen. Günther Stern kokettiert in seinen Aufzeichnungen mit der Behauptung, Hannah an diesem Abend durch ein kantianisches Versprechen für sich gewonnen zu haben, das sich leider nie bewahrheitet: „Lieben sei derjenige Akt, durch den man etwas Aposteriorisches: den zufällig getroffenen Anderen, in ein Apriori des eigenen Lebens verwandle.“

Auf diesem intellektuellen Niveau führt sich das Verhältnis der beiden jungen Philosophen fort. Zwar habe es nach Stern sinnliche Momente zwischen ihnen gegeben; er erinnere sich an leidenschaftliche Kirschen-Orgien auf dem gemeinsamen Balkon in Potsdam-Drewitz – Hannah sei ebenso süchtig nach Kirschen wie nach Zigaretten gewesen; sie habe die Kirschen vermutlich samt Kern und Stiel verschlungen, so Stern. Und doch bleibt ihre größte geteilte Leidenschaft der philosophische Dialog.* Erotische Gefühle oder gar Liebe hebt Hannah sich für Andere auf. Auf dieser sachlich-romantischen Grundlage heiraten Hannah Arendt und Günther Stern noch im selben Jahr. Hannah Arendt wird später resümieren, sie habe geheiratet „ganz gleich wen, ohne zu lieben.“ Und das tat sie angeblich mit vollem Bewusstsein; sei es aus Trotz; sei es, um die Trennung von Heidegger zu überwinden; sei es, um der Lebens-und Liebesgeschichte der jüdischen Saloniére und Schriftstellerin Rahel Varnhagen nachzueifern.

Zu dieser Zeit arbeitet Hannah Arendt nämlich an einer Studie über Rahel Varnhagen, ergründet deren Liebesleben und überträgt ihre biografische Arbeit vermutlich auf ihre eigene Situation. So schreibt Arendt, Rahel habe sich ihren romantischen Amouren abgewandt und Karl August Varnhagen geheiratet, um lieber „einsam mit einem zweiten zusammenzuleben, als an (…) platonischer Bewunderung zugrunde zu gehen.“ Parallel dazu habe ihre erste große Liebe Heidegger sie „zum Leben erweckt“ und Günther Stern ihr, vermutlich, das Leben gerettet. Denn Stern zeigt sich seiner Ehefrau gegenüber nicht nur intellektuell ebenbürtig. Er ist gutmütig, bewundernd, und: er liebt sie. Der hingebungsvolle Ehemann erhofft sich eine romantische Lebens- und Denkgemeinschaft mit dieser rebellischen Frau, doch bereits 1933 scheiden sich die philosophischen und politischen Interessen der Eheleute. Günther Stern hat in der Zwischenzeit einen neuen Nachnamen. Er nennt sich jetzt Günter Anders und verkehrt im Umfeld von Bertholt Brecht. Hannah Arendt schreibt weiterhin an ihrem Rahel-Werk und hat erste Kontakte zu Zionisten aufgenommen.

1937 lassen sich Arendt und Anders scheiden. Nach dem Reichstagsbrand flieht er nach Paris. Sie bleibt vorerst in Berlin und riskiert eine Verhaftung durch die Gestapo. Nach ihrer Freilassung folgt sie Günther Anders ins Exil nach Paris. Dort verfällt Hannah Arendt bald dem herrschsüchtigen Heinrich Blücher, den sie 1940 heiraten wird. Ihr zweiter Ehemann stellt für Arendt gewissermaßen einen gesunden Kompromiss zwischen dem erotischen Machtspiel mit Heidegger und dem Vernunftbündnis mit Günther Anders da. Blücher wird ihr Heimat, Leidenschaft, Eigenständigkeit und Liebe. Mit ihm und ihrer Mutter immigriert Hannah Arendt 1941 in die USA.

*Einen lebhaften Eindruck der philosophischen Dialoge zwischen Günther Stern und Hannah Arendt verschafft das Buch: „Die Kirschenschlacht. Dialoge mit Hannah Arendt“ (Günther Anders, C.H.Beck, 2011).

Was danach geschah:

Ab Oktober 1941: Arendt schreibt für das deutsch-jüdische Magazin ‚Aufbau‘ in New York.

1949-1952: Arbeit als Geschäftsführerin für die Organisation zur Rettung und Pflege jüdischen Kulturguts (JCR).

1949/50: Deutschland-Reise im Auftrag der JCR. Kontaktaufnahme zu Heidegger und Karl Jaspers.

04.12.1975: Hannah Arendt stirbt in New York an einem Herzinfarkt. Sie wird neben ihrem Mann Heinrich Blücher begraben.

Ein unvergesslicher Satz: „Eine große Liebe lässt sich durch die Realität des Geliebten nicht stören.“

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, September 2015)

Teil 7: Walter Benjamin (1892-1940)

Von 1915 bis 1940 Lebensfreund von Gershom Scholem

WalterBenjaminEine merkwürdige Art zu denken und zu sprechen hatte er, dazu eine „chinesische Höflichkeit“. Tief und melancholisch sei er gewesen. Seinen innigsten Wünschen sei er nicht nachgekommen; zum Beispiel denen, ein großes systemisches Werk zu schreiben und nach der Machtergreifung Hitlers 1933 noch Palästina auszureisen. Stattdessen habe er sich in Paris in Arbeit verstrickt, sich in die marxistische Theorie verrannt, mit Sprach- und Geschichtsphilosophie herumgeschlagen und darüber sein metaphysisches Talent vernachlässigt.

So äußert sich der jüdische Religionshistoriker Gershom Scholem 1941 in Gedenken an den jüngst verstorbenen Lebensfreund Walter Benjamin.

1923 war Scholem nach Palästina ausgewandert. Er wollte seine Geburtsstadt Berlin für immer hinter sich lassen, weil er als aktiver Zionist in Deutschland keine Zukunft mehr sah. Mit seiner Abreise kehrte Scholem auch der achtjährigen Freundschaft zu Walter Benjamin den Rücken zu. Die Intensität ihrer Auseinandersetzungen hatte ihn schon Jahre zuvor immer wieder in die Verzweiflung getrieben, er hatte Benjamin insgeheim einen unmenschlichen Irren und einen ungerechten Menschen genannt. Trotz Differenzen bestand zwischen Scholem und Benjamin bis zu dessen tragischem Tod 1940 ein reger Briefwechsel. Nach seinem Tod veröffentlichte Scholem mit Theodor Adorno Benjamins Werke. Er sammelte Lebensspuren, um seinen rätselhaften Freund vielleicht etwas besser verstehen zu können.

Walter Benjamin wurde in eine bürgerliche Familie assimilierter Juden geboren. Er wuchs um neunzehnhundert in der Delbrückstraße 23 in Berlin-Grunewald auf. Nach seiner Schulzeit in Thüringen, studierte Benjamin 1912 Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin. 1915 lernte er den fünf Jahre jüngeren Mathematikstudenten Gershom Scholem kennen. Nachdem er am Vortag ein Referat Scholems über das „Wesen des Geschichtsprozesses“ gehört hatte, sprach Benjamin ihn in der Universitätsbibliothek auf dessen Inhalt an. In den folgenden Tagen trafen die Studenten sich zu Kaffee oder Schach, um über geistige Ahnen, Sozialismus, Judentum und Kant zu sprechen.

Benjamin entwickelte über die Jahre der Freundschaft eine eigene Geschichtsauffassung, die besonders in der „Berliner Chronik“ von 1932 zum Ausdruck kommt. Nach dem ersten Weltkrieg, nachdem seine Eltern im Zuge der Inflation ihr Vermögen verloren hatten, nachdem Benjamins Habilitation gescheitert war und er sich aus Geldmangel gedrängt fühlte, als Publizist zu arbeiten, fragte er sich nach der Notwendigkeit von Geschichtsereignissen. Inwieweit hatten sich Stillstand und Zerfall, von denen er sein Leben dominiert sah, bereits in seiner Kindheit angedeutet?

In der „Berliner Chronik“ prüfte der Schriftsteller Wert und Wesen seiner eigenen Kindheitserinnerungen, und versuchte seine Vergangenheit vor dem Zerfall zu bewahren, indem er Momente herausgriff und von allen Seiten betrachtete.

Benjamin hatte die Theorie, dass sich die Fragmente der Zukunft bereits in der Vergangenheit widerspiegelten wie in einem Kristall, und dass man mit seinem gegenwärtigen Geist die Splitter der Zukunft aus der Vergangenheit heraus exerzieren könne. Dieses künstliche Herausnehmen aus dem Geschichtsprozess bedeutete für Benjamin – unter Einfluss des historischen Materialismus Karl Marx‘ – die Rettung des Moments vor seiner Umdeutung und Instrumentalisierung als Ware und gleichzeitig einen Stillstand.

Benjamin ließ sich zu Beginn des zweiten Weltkriegs nach Frankreich ins Exil treiben, in Paris schrieb er jahrelang an seinem „Passagen“-Werk und verlief sich in den Spuren, die er verfolgte. Sein eigenes Leben, seine Kindheit aber auch seine jüdische Herkunft, behandelte Benjamin als Materialsammlung.

Vielleicht stieß er bei seiner Rückschau auf keine Rechtfertigungen für eine Utopie. Vielleicht war sein Selbstmord die logische Konsequenz seines Skeptizismus. Sicher wurde Benjamin aber auch von den Umständen in den Tod getrieben. Von Südfrankreich aus wollte er die spanische Grenze passieren, doch die Grenztruppen hielten ihn tagelang hin. Es gibt aber auch Berichte von Freunden, die bestätigen, dass der Schriftsteller zuvor bereits des öfteren Suizidgedanken geäußert habe. Unzweifelhaft bleibt: Walter Benjamin starb am 26.09.1940 durch eine Überdosis Morphintabletten in Portbou und verweigerte sich der Lebensrettung.

Mehr zu Walter Benjamin gibt es nachzulesen in: „Begegnungen mit Benjamin“ (Erdmut Wizisla, Lehmstedt Verlag, 2015).

Was danach geschah:

1969: Hannah Arendt gibt in den USA den Sammelband „Illuminations. Walter Benjamin: Essays and Reflections“ heraus und macht Benjamin posthum international bekannt.

1970-1989: Adorno und Scholem geben die gesammelten Werke von Walter Benjamin heraus und bewirken in Westdeutschland einen regelrechten Benjamin-Kult.

Ein unvergesslicher Satz: „Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.“

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, Juli 2015)