Von 1810-1811 erster gewählter Rektor an der Berliner Universität
Es ist ein regnerischer Apriltag im Jahr 1811, als Professor Johann Gottlieb Fichte sein Rektorenzimmer räumt. „So eine Ungerechtigkeit! In Jena beschuldigten sie mich des Atheismus, weil ich mich gegen die Abgötterei und den Götzendienst ausspreche. In Berlin werde ich des engstirnigen Nationalismus beschuldigt, weil ich an den Patriotismus der Deutschen appelliere und dazu aufrufe, vor Napoleon nicht in die Knie zu gehen. Und jetzt zwingen sie mich auch noch, meine Rektorenstelle an der Berliner Universität niederzulegen, weil ich mich parteiisch auf die Seite eines Juden gestellt haben soll. Das ehemalige Land der Freiheit tritt unsere Grenzen in Grund und Boden, die preussische Regierung verbietet uns das Wort und, ja, selbst die Kollegen verschwören sich gegen uns.“
Fichte ist dermaßen brüskiert, weil er jüngst die Nachricht bekam, dass er seiner Stelle als Rektor vom heutigen Tage an entledigt ist. Dabei hatte er selbst um seine Entlassung gebeten.
Anlass zu seiner Bitte um Niederlegung des Amtes gab ihm die sogenannte Brogi-Klaatsch-Affäre. Der jüdische Medizinstudent Joseph Leyser Brogi hatte vor einigen Wochen den Rektor aufgesucht, nachdem er von zwei anderen Studenten gedemütigt wurde. Fichte erkannte die Ungerechtigkeit und sprach sich deutlich dagegen aus, Brogi ebenso wie seinen Widersacher Klaatsch mit vierzehn Tagen Karzer zu bestrafen, weil er angeblich, wie es sein Kollege Friedrich Schleiermacher formulierte, feige und provokant gehandelt habe.
In Fichtes Augen hatte der Junge sich genau richtig verhalten! Die Universität ist kein Ort primitiver Duellkämpfe. Statt auf die Provokationen der beiden Studenten einzugehen, war Brogi zum Rektor gegangen, um sein Recht einzufordern. Doch im Senat wurde dafür gestimmt, den Jungen ebenfalls zu bestrafen. Nicht, weil er Unrecht begangen hatte, sondern weil er ein mittelloser Jude war – dem war sich Fichte gewiss.
Ihn wühlte der Fall Brogi so sehr auf, weil er sich an seine eigenen Schwierigkeiten während der Schulzeit erinnert fühlte, den Diskriminierungen, denen er sich aufgrund seiner ärmlichen Herkunft ausgesetzt sah. Hätte nicht der Gutsherr Haubold von Miltitz sein großes Talent erkannt, hätte er niemals selbst anständige Bildung genießen können. Und weil nicht jedem der Zufall so hold sein kann wie ihm selbst, setzte er sich zeitlebens dafür ein, Bildung für jedermann zugänglich zu machen. Fichte sehnte eine „Epoche der Vernunftkunst“ herbei, in der Bildung keine Frage der Religion, des Standes oder des Geschlechtes mehr ist. Denn Fichte glaubt fest daran, dass der freie Zugang zu Wissen die Vernunft der Menschen schulen und den Charakter so ausbilden kann, dass sie fähig sind, ihren inneren Überzeugungen gemäß zu handeln, ohne sich von Autoritäten und Ideologien beeinflussen zu lassen. Als Hauslehrer, als Professor und zuletzt auch als Rektor hatte er immer versucht, seine Ansichten zu verbreiten – und war dabei stets auf Widerstand gestoßen. „Vielleicht war das ein wenig idealistisch von mir …“, denkt Fichte jetzt, „angesichts der hochgradigen Verfehlungen meiner gelehrten Kollegen und der politischen Situation …“ Johann Gottlieb Fichtes Zweifel kommen einer Resignation nahe. War er am Ende an seinem Anspruch gescheitert, ein vorbildlicher Gelehrter zu sein, der seinen Mitmenschen die Augen öffnet?
Doch Fichtes Einsatz für den Studenten Brogi verfehlt seine Wirkung nicht. Sein Nachfolger Friedrich Carl von Savigny, der auch während der Brogi-Klaatsch-Affäre eher auf Fichtes Seite gestanden hatte, wird ihm recht geben, seine Anerkennung aussprechen und Brogis Strafe von 8 auf 3 Tage Karzer kürzen. Auch Fichtes Kritik an Napoleon, an die strenge Zensur und die Willkür der absolutistischen Staaten wird die Grundsätze der Universität verändern.
Was kurz danach geschah:
1814: Fichte stirbt im Alter von 52 Jahren überraschend am Lazarettfieber. Er wird auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof zu Berlin begraben. Im selben Jahr wird Napoleon als Kaiser abgesetzt.
Ein unsterblicher Satz:
„Es ist eine abgeschmackte Verleumdung der menschlichen Natur, daß der Mensch als Sünder geboren werde.“
Im November erwacht zum Leben: Henriette Herz, die einen der führenden literarischen Salons der Frühromantik in Berlin betrieb.
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