Soeben bemerkte ich einen Tick an mir, den ich seit geraumer Zeit umbewusst auslebe. Wenn der Großstadtstrom mich von Prenzlauer Berg in den Wedding spült und ich die Bornholmer Brücke, die eigentlich „Bösebrücke“ heißt, überquere, dann lasse ich mir auf ihrer Mitte von dem roten Sofa eine neue Wahnsinns-Geschichte erzählen.
Naja… gemütlich ist dieses Sofa nicht gerade. Das Gesäß rutscht die glatte, harte Oberfläche herunter. Man verharrt halbliegend. Dann folgt ein Rundumblick auf die hässliche, laute und unfallbelastete Stahlkonstruktion. Der Nazimief hängt an ihr wie der Namensgeber dieser Brücke, Wilhelm Böse. „Hier stand er und sammelte mit seiner Klapperdose Spenden für inhaftierte Antifaschisten.“, erzählt mir das Sofa. „Da drüben verkaufte er die „Rote Fahne“. Und ein paar Häuser weiter im Prenzlauer Berg hielt er hitzige KPD-Reden. Dafür wurde er 1944 gehängt!“ Wissbegierig folge ich den Ausführungen des sprechenden Sofas, als es sein Programm wechselt und singend durch die Zeiten springt:
Links, links, links, links! Die Trommeln werden gerührt!
Links, links, links, links! Der Rote Wedding marschiert!
Hier wird nicht gemeckert, hier gibt es Dampf,
Denn unsre Parole heißt Klassenkampf (…)
„Auf der Westseite der Brücke tobte 1929 der Blutmai, bei dem unzählige Demonstranten von der Polizei erschossen wurden. Erich Weinert schrieb den tapferen Helden noch im selben Jahr diese Hymne. In der DDR erlebte das Arbeiterlied ein Revival.“ Das Sofa hält kurz Inne und verfällt in enthusiastische „Wahnsinn! Wahnsinn!“-Schreie. Es scheint einen Wackler zu haben. Völlig verständlich, dass ein Sofa, das auf der Bösebrücke steht, den Verstand verliert, denke ich. Wahrscheinlich hat es sich über die Jahre fuselig geredet.
„Das verstehst du falsch!“, ermahnt mich der Bikeguide von der Mauerwegtour, der sich mittlerweile mit seiner Gruppe um das Sofa positioniert hat. „Das Rote Sofa ist eine Kunstintallation des Künstlerpaares Twin Gabriel und trägt den Namen „Mind the Gap“. Als Ostberliner 1989 freudig den ersten Grenzübergang an der Bösebrücke überquerten, schrieen sie „Wahnsinn! Wahnsinn!“. Diese Schreie schallten ursprünglich aus dem heute stummen roten Sofa!“
Egal, welcher Spalte unserer Geschichte man gedenken möchte: Auf der Bösebrücke wartet ein roter Rastplatz, auf dem jeder Passagier die guten und bösen Ausraster der letzten hundert Jahre an sich vorbeirasen lassen kann. Aber Vorsicht: Wer auf dem roten Sofa sitzt, droht Stimmen zu hören!
(Veröffentlicht in den „Prenzlberger Ansichten“, September 2013,)