Teil 10: Wilhelm Reich (1897-1957)

… ein planetarer Arzt“

wilhelm ReichIn der letzten Folge blickten wir zurück auf die Begegnung zwischen Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey in Berlin. Beide Philosophen kritisierten die Verdinglichung des Menschen durch die Naturwissenschaften. Mit der Phänomenologie wurde der Mensch in der Philosophie nicht mehr als objektiver Körper behandelt, den man zerlegen und erklären kann, sondern als fühlendes, denkendes, wollendes Wesen mit leiblichen Erfahrungen. Keine logischen Operationen, sondern praktische Beobachtungen sollten Erkenntnisse darüber liefern, was der Mensch eigentlich ist. Die Psychoanalyse nach Sigmund Freud leistete hierzu einen wichtigen Beitrag. Er teilte die Psyche in Ich, Es und Über-Ich und zeigte damit, dass nicht nur Intellekt, sondern auch Trieb und Erziehung einen Einfluss auf die Seele des Menschen üben.

Wilhelm Reich war ein Schüler Freuds. Er radikalisierte Freuds Libidotheorie; machte aus ihr eine Orgasmustheorie. Die Unterdrückung sexueller Bedürfnisse führten nach Reich dazu, dass 90% der Frauen und 60% der Männer Orgasmusstörungen hätten. Dies begünstige Neurosen, welche nicht nur persönliches, sondern vor allem gesellschaftliches Leid erzeugten. Eine Folge dieser kollektiven Sexualstörung sei der Faschismus. In der Konsequenz gab Wilhelm Reich 1930 seine ärztliche Privatpraxis in Wien auf, um in Berlin aktiv gegen den Faschismus zu kämpfen.
Ist Faschismus eine Krankheit?
– 1929 äußert Wilhelm Reich diese Vermutung vor dem „inneren Kreis“ seiner Kollegen. Das Treffen findet in Sigmund Freuds Privathaus statt. Der psychoanalytischen Vereinigung käme die Aufgabe zu, wirtschaftliche und sexuelle Veränderungen des Lebens einzuleiten, sagt er; der „epidemischen Verbreitung der Neurosen“ müsse man entgegensteuern. Dies sei nur durch politische Aktivitäten außerhalb der Privatpraxis umsetzbar. Damit fordert er von seinen Kollegen, die ganze Gesellschaft als Patienten wahrzunehmen und sich dem entsprechend zu engagieren.
Die Freudianer reagieren mit Zwischenrufen. Doch Wilhelm Reich lässt sich dadurch nicht beirren; bringt stattdessen einen weiteren kritischen Punkt auf die Tagesordnung. Der ein oder andere ahnt schon, worauf es hinauslaufen wird. Wieder einmal betont er, wie wichtig die Aufklärung der Arbeiterschicht sei. Man müsse aus seinem geschlossenen Kreis ausbrechen. Er selbst ist ja schon mit gutem Beispiel voran gegangen, hat in Wien acht Jahre lang im „Psychoanalytischen Ambulatorium für Mittellose“ gearbeitet. Doch Freud und seinen Anhängern missfällt diese Form politischen Aktivismus. Sie protestieren erneut. Wilhelm Reich versucht sie zu beruhigen. Er ist selbstsicher. Später wird man ihn auch als stur und exzentrisch bezeichnen.
Nach diesem Treffen kommt es zum endgültigen Zerwürfnis zwischen ihm und Freud. Reich wird sich davon noch schwer gekränkt zeigen. Doch vorerst führt er das Missverständnis auf die reaktionäre Gesinnung seiner Kollegen zurück. Warum sollten Ärzte keine Politik machen? Warum keine sexuelle Revolution initiieren? Wenn er im vornehmen Wien keine Verbündeten für seine Vorhaben finden kann, dann wird er es eben in Berlin versuchen. Dort sind die Menschen doch sowieso viel offener. Und weil Großstadtbewohner bekanntlich besonders stark unter stressbedingten sexuellen Stauungen leiden, wird er sicher auch genügend Patienten für sich gewinnen können.

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Künstler: William Steig

1930 zieht Wilhelm Reich nach Berlin. Er tritt dem Verein „sozialistischer Ärzte“ bei. Im Januar 1931 ruft er die Ärzte des Vereins in einer Rede dazu auf, sich für die sexuelle Befreiung der Bevölkerung einzusetzen. Mittlerweile ist Wilhelm Reich auch Mitglied der KPD und hat die Massenorganisation „Sexpol“ („Reichsverband für proletarische Sexualpolitik“) gegründet.
Zeitgleich arbeitet Wilhelm Reich in Berlin an einer freudo-marxistischen Analyse. Doch während seiner Reden teilt er mit seinen Partei- und Arbeitskollegen bereits jene Zukunftsvisionen, die erst 1933 mit „Massenpsychologie des Faschismus“ einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sein werden. Sein politischer Kampf gilt patriarchalen Familienstrukturen, und den Verboten von Homosexualität und außerehelichem Sex. Diese gesellschaftlichen Normen seien hauptsächlich dafür zuständig, dass Menschen ihre unterbewussten Bedürfnisse von Geburt an derart unterdrückten, dass sie nun gewaltsam auszubrechen drohen. Sadistische Neigungen könnten zu Fremdenhass, und Fremdenhass zu Krieg werden; sexuelle Frustration dazu führen, dass man sich die Befriedigung auf Umwegen verschafft; in der Massenekstase zum Beispiel, und der Anbetung einer Führerpersönlichkeit. Autoritäre Erziehung führt dazu, dass so viele Menschen zu Anhängern einer autoritären Ideologie werden. Eine repressive Ordnung entspricht ihren erworbenen Prägungen von Entsagung und Selbstkontrolle. Viele seien deshalb nicht imstande ein politisches Bewusstsein auszuprägen. Stattdessen handelten sie affektiv und neurotisch. Der Faschismus habe einen Weg gefunden, diese Charakterschwächen auszunutzen. Deshalb sei sexuelle Aufklärung und der Kampf gegen Neurosen der einzige Weg, einer Nazi-Invasion entgegenzuwirken.
1934 schließt die KPD Wilhelm Reich aus ihrer Partei aus. Seine Ideen von Familie und Sexualität widersprechen der stalinistischen Ideologie. Im selben Jahr unterschreibt auch Sigmund Freud Reichs Ausschluss aus der IPV. Er wird zum politisch Verfolgten, verlässt Berlin, flieht erst nach Schweden, dann nach Dänemark, danach nach Norwegen. Asyl erhält Wilhelm Reich erst 1939 in den USA.

Was danach geschah:
1940: Wilhelm Reich entdeckt die Lebensenergie „Orgon“ und entwickelt Orgon-Akkumulatoren, die unter anderem in der Krebstherapie eingesetzt werden sollten.
1951: im Oranur-Experiment forscht er zur Neutralisierung radioaktiver Strahlung. Nach einem Unfall entwickelt Reich erst den DOR-Buster und dann den Cloud-Buster, mit denen er „tödliche Orgonenergien“ bekämpfen möchte. Die Atomlobby beginnt, seine Arbeit zu behindern.
1955: gerichtliches Verbot der Orgon-Akkumulatoren und Verbrennung seiner Bücher.
1956: Verhaftung wegen „Missachtung des Gerichts“.
03.11.1957: Wilhelm Reich stirbt während der Haft in Lewisburg, Pennsylvania.
Posthum: seine Thesen werden während der 68’er Bewegung wiederentdeckt.

Ein unvergesslicher Satz: „Ich bin dein Arzt, und da du diesen Planeten bevölkerst, bin ich ein planetarer Arzt; ich bin kein Deutscher, kein Jude, kein Christ, kein Italiener, sondern Bürger der Erde.“

(veröffentlicht in den Prenzlberger Ansichten, Januar 2016)