Von 1915 bis 1940 Lebensfreund von Gershom Scholem
Eine merkwürdige Art zu denken und zu sprechen hatte er, dazu eine „chinesische Höflichkeit“. Tief und melancholisch sei er gewesen. Seinen innigsten Wünschen sei er nicht nachgekommen; zum Beispiel denen, ein großes systemisches Werk zu schreiben und nach der Machtergreifung Hitlers 1933 noch Palästina auszureisen. Stattdessen habe er sich in Paris in Arbeit verstrickt, sich in die marxistische Theorie verrannt, mit Sprach- und Geschichtsphilosophie herumgeschlagen und darüber sein metaphysisches Talent vernachlässigt.
So äußert sich der jüdische Religionshistoriker Gershom Scholem 1941 in Gedenken an den jüngst verstorbenen Lebensfreund Walter Benjamin.
1923 war Scholem nach Palästina ausgewandert. Er wollte seine Geburtsstadt Berlin für immer hinter sich lassen, weil er als aktiver Zionist in Deutschland keine Zukunft mehr sah. Mit seiner Abreise kehrte Scholem auch der achtjährigen Freundschaft zu Walter Benjamin den Rücken zu. Die Intensität ihrer Auseinandersetzungen hatte ihn schon Jahre zuvor immer wieder in die Verzweiflung getrieben, er hatte Benjamin insgeheim einen unmenschlichen Irren und einen ungerechten Menschen genannt. Trotz Differenzen bestand zwischen Scholem und Benjamin bis zu dessen tragischem Tod 1940 ein reger Briefwechsel. Nach seinem Tod veröffentlichte Scholem mit Theodor Adorno Benjamins Werke. Er sammelte Lebensspuren, um seinen rätselhaften Freund vielleicht etwas besser verstehen zu können.
Walter Benjamin wurde in eine bürgerliche Familie assimilierter Juden geboren. Er wuchs um neunzehnhundert in der Delbrückstraße 23 in Berlin-Grunewald auf. Nach seiner Schulzeit in Thüringen, studierte Benjamin 1912 Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin. 1915 lernte er den fünf Jahre jüngeren Mathematikstudenten Gershom Scholem kennen. Nachdem er am Vortag ein Referat Scholems über das „Wesen des Geschichtsprozesses“ gehört hatte, sprach Benjamin ihn in der Universitätsbibliothek auf dessen Inhalt an. In den folgenden Tagen trafen die Studenten sich zu Kaffee oder Schach, um über geistige Ahnen, Sozialismus, Judentum und Kant zu sprechen.
Benjamin entwickelte über die Jahre der Freundschaft eine eigene Geschichtsauffassung, die besonders in der „Berliner Chronik“ von 1932 zum Ausdruck kommt. Nach dem ersten Weltkrieg, nachdem seine Eltern im Zuge der Inflation ihr Vermögen verloren hatten, nachdem Benjamins Habilitation gescheitert war und er sich aus Geldmangel gedrängt fühlte, als Publizist zu arbeiten, fragte er sich nach der Notwendigkeit von Geschichtsereignissen. Inwieweit hatten sich Stillstand und Zerfall, von denen er sein Leben dominiert sah, bereits in seiner Kindheit angedeutet?
In der „Berliner Chronik“ prüfte der Schriftsteller Wert und Wesen seiner eigenen Kindheitserinnerungen, und versuchte seine Vergangenheit vor dem Zerfall zu bewahren, indem er Momente herausgriff und von allen Seiten betrachtete.
Benjamin hatte die Theorie, dass sich die Fragmente der Zukunft bereits in der Vergangenheit widerspiegelten wie in einem Kristall, und dass man mit seinem gegenwärtigen Geist die Splitter der Zukunft aus der Vergangenheit heraus exerzieren könne. Dieses künstliche Herausnehmen aus dem Geschichtsprozess bedeutete für Benjamin – unter Einfluss des historischen Materialismus Karl Marx‘ – die Rettung des Moments vor seiner Umdeutung und Instrumentalisierung als Ware und gleichzeitig einen Stillstand.
Benjamin ließ sich zu Beginn des zweiten Weltkriegs nach Frankreich ins Exil treiben, in Paris schrieb er jahrelang an seinem „Passagen“-Werk und verlief sich in den Spuren, die er verfolgte. Sein eigenes Leben, seine Kindheit aber auch seine jüdische Herkunft, behandelte Benjamin als Materialsammlung.
Vielleicht stieß er bei seiner Rückschau auf keine Rechtfertigungen für eine Utopie. Vielleicht war sein Selbstmord die logische Konsequenz seines Skeptizismus. Sicher wurde Benjamin aber auch von den Umständen in den Tod getrieben. Von Südfrankreich aus wollte er die spanische Grenze passieren, doch die Grenztruppen hielten ihn tagelang hin. Es gibt aber auch Berichte von Freunden, die bestätigen, dass der Schriftsteller zuvor bereits des öfteren Suizidgedanken geäußert habe. Unzweifelhaft bleibt: Walter Benjamin starb am 26.09.1940 durch eine Überdosis Morphintabletten in Portbou und verweigerte sich der Lebensrettung.
Mehr zu Walter Benjamin gibt es nachzulesen in: „Begegnungen mit Benjamin“ (Erdmut Wizisla, Lehmstedt Verlag, 2015).
Was danach geschah:
1969: Hannah Arendt gibt in den USA den Sammelband „Illuminations. Walter Benjamin: Essays and Reflections“ heraus und macht Benjamin posthum international bekannt.
1970-1989: Adorno und Scholem geben die gesammelten Werke von Walter Benjamin heraus und bewirken in Westdeutschland einen regelrechten Benjamin-Kult.
Ein unvergesslicher Satz: „Es gibt für die Menschen, wie sie heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.“
(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, Juli 2015)