Teil 6: Lou Andreas Salomé (1861-1937)

Von 1882 bis 1887 Friedrich Nietzsches Denkschwester


louEin 37-jähriger, kränklicher Philosoph – nach eigenen Angaben zu 4/5 blind – steht im Sommer 1882 am Anhalter Bahnhof und hält Ausschau nach einer großen, schlanken, blonden Frau in einem langen schwarzen Kleid. Bei dem Wartenden handelt es sich um Friedrich Nietzsche, bei der Erwarteten um Lou Salomé. Die 21-Jährige hat ihrem liebeskranken Verehrer vor wenigen Tagen in einem Brief mitgeteilt, dass sie heute von Hamburg nach Stibbe reisen wird, in das Elternhaus ihres gemeinsamen Freundes Paul Rée. Nietzsche schlug daraufhin vor, sich in Berlin zu treffen, das läge schließlich auf dem Weg. Obwohl Lou von diesem Vorschlag nicht angetan war, ist Nietzsche trotzdem nach Berlin gereist. Ihre Ankunftszeit schätzte er auf 11 Uhr, seit 10.30 Uhr ist er am Bahnhof. Die Chancen einer Zusammenkunft stehen also gut; denkt er.

Was er nicht weiß: Lou hat vor Stunden den Nachtzug aus Hamburg genommen. Sie dürfte bereits in Stettin eingetroffen sein, als Nietzsche noch voller Hoffnung ist, seine Geliebte Russin in Berlin wiederzusehen, ja, sie vielleicht sogar davon zu überzeugen, in sein Elternhaus nach Naumburg zu kommen.

Zwischen ihm und seinem Freund Rée ist in den letzten drei Monaten ein regelrechter Wettstreit ausgebrochen. Im Februar hatte Paul Rée ihm schriftlich von „der Russin“ derart vorgeschwärmt, dass Nietzsche beschloss, sie ungesehen zu heiraten; aber nur für zwei Jahre. Rées Begeisterung hinsichtlich dieser vermessenen Ankündigung hielt sich in Grenzen. Er hatte im Gegensatz zu Nietzsche bereits das Vergnügen, Lou während nächtlicher Spaziergänge durch Rom näher kennen zu lernen; er wusste also zu diesem Zeitpunkt nicht nur schon um ihren bestechenden Intellekt und ihre Schönheit, sondern auch um ihren Eigenwillen und ihre Kompromisslosigkeit. Letztere Charakterzüge bekam Rée zu spüren, als er bei Lou’s Mutter um ihre Hand anhielt. In Lou’s Augen war der Antrag ein Verrat ihrer Freundschaft. Nach all‘ dem, was sie sich anvertraut hatten? Rée wiederum war von der Abweisung zu tiefst gekränkt. Seit wann freuen sich Frauen nicht mehr, wenn ein vermögender, gebildeter Mann um ihre Hand anhält, noch dazu ein so enger Vertrauter? Nach all den Tortouren, die dieser aufopfernde Mann für die zähe Lou schon auf sich genommen hat, gäbe er sie, einmal für sich gewonnen, sicher nicht bereits nach zwei Jahren wieder frei. Aber sein verwegener Freund Nietzsche wird schon noch seine eigenen Erfahrungen machen …

Wie erwartet stolperte der gute Freund Nietzsche bereits beim ersten Kennenlernen ins Fettnäpfchen der femme fatale. Seine lange zuvor ausgedachten ersten Worte: „Von welchen Sternen sind wir hier einander zugefallen?“, kamen bei Lou überhaupt nicht gut an. Lou sah über seine unpassende Begrüßung großzügig hinweg, denn sie freute sich zu sehr darauf, den geheimnisvollen Philosophen endlich einmal persönlich kennenzulernen.

Sowohl Nietzsche als auch Lou merkten schnell, wie sehr sich ihre philosophischen Ansichten und Interessen überschnitten. Lou wird bald von einer „tiefverwandten Natur“ berichten, Nietzsche wird Lou sein „Geschwistergehirn“ nennen. Aber deswegen gleich heiraten? Nietzsche hielt einen Antrag für die einzig mögliche Konsequenz, doch Lou ließ ihn wissen, wie sie im Allgemeinen zu einer Eheschließung steht. Sie schreibt an Nietzsche: „Verlobte sind einander eine rosige Vermuthung u. Ehegatten eine bittere Erkenntnis.“ Nietzsche gefiel diese Einstellung. Sie hatte ja ganz recht: viel wertvoller als eine Ehe ist die Freundschaft. Beide sind sich einig: „Die Freundschaft zwischen verschiedenen Geschlechtern ist eine adlige Neigung.“ Doch ebenso befinden sowohl Lou, als auch Nietzsche: „Der Einklang im Gefühle zweier Personen kann die Ursache der Liebe oder auch die Folge der Liebe sein.“

Hochzeit hin oder her, in den kommenden Wochen galt es herauszufinden, ob es sich bei der Zuneigung, die sie zueinander verspürten, um Liebe handelte. Lou schlug erst einmal vor, mit Nietzsche und Rée in eine schöne Wohnung in Wien oder Paris zu ziehen; mit getrennten Schlafzimmern und Blumen auf dem Tisch. Dass es zu Rivalitäten zwischen Rée und Nietzsche kam, ist zu erahnen. Rée ist Lou während der vielen Gespräche und Reisen ein sehr guter Freund geworden. Sie nennt ihn ihre Heimat, ihr Haus, sie ist sein „Schneckle“. Bei Nietzsche hingegen handelt es sich nicht um eine derart ruhige, treue Seele. Ein guter Freund ist er nicht. Aber taugt er vielleicht zum Liebhaber?

Als Nietzsche von Naumburg nach Berlin reiste, um seine Lou am Anhalter Bahnhof abzufangen, muss er fest entschlossen gewesen sein, ihr seine Qualitäten als unentbehrlicher Weggefährte zu beweisen. Doch wieder einmal meinte es das Schicksal nicht gut mit ihm und sie verpassten sich.

Jetzt spaziert er allein durch den Grunewald und bemitleidet sich selbst. Womöglich fühlt er zum ersten Mal deutlich, dass diese Frau seinen Untergang bedeuten könnte. Im zweiten Teil von „Also sprach Zaratustra“ schließt er: „Lieben und Untergehn: das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe: das ist, willig auch sein zum Tode.“

Was kurz danach geschah:

1882: Lou wird im August mit Paul Rée nach Berlin in eine Zweier-WG ziehen, während Nietzsche, von Wut zerfressen, einsam durch Italien irrt.

1885: Den Schmerz über den Verlust seiner Denkschwester wird Nietzsche in sein Hauptwerk „Also sprach Zaratustra“ einfließen lassen. Zeitgleich zur Veröffentlichung des letzten Teils wird Lou Salomé unter dem Namen Henri Lou „Im Kampf um Gott“ veröffentlichen und weitaus mehr Erfolg haben.

1887: Lou wird den Orientalisten Carl Friedrich Andreas heiraten, nachdem dieser sich einen Tag vor der Verlobung während einer Auseinandersetzung mit seiner Zukünftigen ein Taschenmesser ins Herz gerammt und knapp überlebt hat. Andreas wird in den folgenden Jahren noch über so manche Liebelei seiner Frau hinwegsehen müssen. Einen Geliebten, den 15 Jahre jüngeren Rainer Maria Rilke, muss er gar als Mitbewohner akzeptieren. Zudem wird es auf Wunsch Lou’s niemals zu ehelichem Sex kommen.

Mehr zu Lou Andreas-Salomé gibt es nachzulesen in: „Der bittere Funke Ich“ (Kerstin Decker, Ullstein, 2010).

Im Juli erwacht zum Leben: Walter Benjamin. Der 1892 in Charlottenburg geborene Philosoph und Literaturkritiker, hielt seine Kindheitserinnerungen in der Chronik „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ fest.

(erschienen in den Prenzlberger Ansichten, Mai 2015)

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