Michael Gutmann erzählt von seiner philosophischen Praxis in Berlin-Prenzlauerberg
PA: Herr Gutmann, unsere philosophische Reihe in den Prenzlberger Ansichten heißt „Vermessung des Denkens“. Glauben Sie, dass Denken sich vermessen lässt?
In der Sokratischen Philosophie gehört das Vermessen dazu. Das Maß als Kriterium der Beurteilung richtet sich in der Philosophie nach den Fragen des Guten, Schönen und Richtigen. Das ist ein qualitatives Vermessen, ein Bewerten, im Gegensatz zum quantitativem Vermessen der empirischen Wissenschaften. Denken braucht ein Maß, sonst ist es haltlos. Wir brauchen eine Orientierung.In der Psychologie und Philosophie gibt es meist nur ein subjektives Maß. Bei mir gibt es ein objektives Maß. Wenn sich jemand in seinem Denken in Widersprüche verfängt, dann ist sein Gedanke einfach falsch. Diese logischen Widersprüche versuche ich in meiner Philosophischen Praxis aufzudecken. Ich baue auf den logischen, einfachen drei Grundgesetzen auf: der „Satz der Identität“ sichert, dass man nicht von Hölzchen auf Stöckchen kommt, der „Satz des Widerspruchs“ besagt, dass a ungleich nicht-a ist, der „Satz des ausgeschlossenen Dritten“ besagt, dass a entweder a oder nicht-a sein kann, aber kein Drittes. Da sieht man, wie eingeschränkt mein Denken ist. Ich lebe in diesem mesokosmischen Bereich, kümmere mich um Bereiche, die wir als Menschen sinnlich erfassen können. Ich bin kein Teilchen- oder Quantenphysiker, wo möglicherweise ganz andere Gesetze gelten. Ich kümmere mich nur um diesen Bereich menschlichen Lebens, Denkens und Verhaltens. Die Dinge, wofür wir, denke ich, in der Welt auch vorrangig da sind.
PA: Für die Reihe „Vermessung des Denkens“ interessierten mich besonders die persönlichen Hintergründe philosophischen Denkens. Durch welche Fragen und Probleme wurden Philosophen zu ihren Werken motiviert? Wie sahen sie sich selbst? Da Sie mir nun gegenübersitzen: Welche Probleme und Fragen haben Sie in ihrem Leben zum philosophischen Denken motiviert?
Ohne es zu wissen, habe ich schon immer eine gewisse Freude an der Logik gehabt. Bauen, Planen, Schrauben: Vor meinem Philosophiestudium habe ich als Ingenieur gearbeitet. Mit 20 oder 22 habe ich mich gefragt, was mein Leben soll. Ich war geprägt von dem frühen Tod meines Vaters. Mir fehlte ein Mentor. Das hat später auch zu meinem Beruf geführt. Da ich aus philosophischen Schriften nicht richtig schlau geworden bin, habe ich zuerst versucht, meinen Fragen auf künstlerischem Weg näher zu kommen. Zwei, drei Jahre lebte ich auf dem Land und habe Tierkadaver, Schädel und Knochen gemalt und in Ton modelliert, weil mich die Vergänglichkeit und diese Sterbeprozesse interessierten. Meine Fragen haben mich 1985 nach West-Berlin geführt. Denn in Süddeutschland konnte ich nicht als Ingenieur und gleichzeitig als Philosoph arbeiten. Die hätten mir alle ’nen Vogel gezeigt. An der FU Berlin habe ich angefangen Philosophie zu studieren. Während des Studiums habe ich einen Lehrer gefunden, einen Privatdozenten. An dem bin ich dran geblieben und der hat mich auch an das Sokratische Denken herangeführt. Am Anfang hat mir Sokrates gar nicht gefallen. Der hat mich negiert und fertig gemacht. Aussagen wie „Staat ist gut“ entsprachen überhaupt nicht meiner Lebensrealität. Wir in Kreuzberg fanden den Staat scheiße. Lieben wollten wir leidenschaftlich und frei und konnten mit platonischer Liebe überhaupt nichts anfangen. Ich wollte Sokrates widerlegen. Das hat seine Zeit gedauert, bis ich sein Denken annehmen konnte. Der platonische Sokrates wurde irgendwann für mich das Gegenüber, das mit fehlte, mit dem ich auch, wenn ich allein zu Hause denke, in Dialog treten kann.
PA: Das Sokratische Denken hat Sie auch dazu bewogen, eine Philosophische Praxis zu eröffnen. Seit 2001 praktizieren Sie im Prenzlauer Berg. Was ist denn eigentlich eine „Philosophische Praxis“?
Meine Philosophische Praxis ist ein Anlaufpunkt für Menschen, die sich mit ihren Fragen über das Leben, sich selbst und über zwischenmenschliche Bereiche an mich wenden können. Meine Praxis ist eine philosophisch-therapeutische Praxis. Sie richtet sich auch an Menschen, die sich unwohl fühlen.
PA: Welche Verfahrensweisen und Methoden nutzen Sie in Ihrer Praxis?
Anfangs gibt es ausführliche Vorgespräche. Ich schaue, ob es einen Weg gibt und wenn ja, dann mache ich demjenigen Mut. Wir treffen uns meist in Cafés oder in meinen Praxisräumen. Dann höre ich aufmerksam zu und wir erarbeiten gemeinsam die Fragen, die mein Gegenüber hat. Dann schauen wir, ob die Fragen gut sind, ob sie überhaupt zu beantworten sind; schauen, was das Anliegen einer Frage ist. Die Beantwortung geht innerhalb weniger Stunden. Ich weiß nicht, was die Psychoanalyse mit ihren 300 Stunden auf der Couch betreibt. Ich hab noch nie jemanden erlebt, der das hinter sich hat und der danach schlauer war als vorher.
PA: Was kann die Philosophische Praxis leisten, was ein Universitätsstudium oder eine Psychotherapie nicht leisten kann?
Wenn es in einem Universitätsstudium fähige Lehrende gibt, dann kann ein Studium durchaus das gleiche leisten. Nur müssen diese fähigen Lehrenden eben da sein. Und sie brauchen die Möglichkeiten, mit den Studierenden zu sprechen. Da reicht keine halbe Stunde im Semester. Was die Universität nicht bringt, kann ich dann bringen. Die Psychotherapie kann zum Teil ähnliches leisten. Es kommt sehr darauf an, ob der Therapeut gut ist, dann ist auch die therapeutische Schule unwichtig. Die existenzielle Psychotherapie von dem Psychiater Irvin Yalom finde ich beispielsweise großartig. Und die Logotherapie von Victor Frankl geht in eine ähnliche Richtung wie ich, dass sie in Ansätzen den Menschen beim Denken hilft. Diesen Ansatz verfolge ich mit der „Sinntherapie“, die ich auch in meiner Praxis anbiete. Mit Sinn meine ich den griechischen „logos“, also sowohl den kosmischen Sinn, der durch Naturgesetze, Harmonie und Ordnung – auch in der Musik – wiederzufinden ist, als auch den individuellen Sinn. Einerseits ist der Sinn des Lebens uns von Natur aus gegeben, andererseits stehen wir in der Verantwortung, unserem Leben selbst Sinn zu geben und zu fragen: Wofür bin ich da? Wofür will ich da sein? Wenn einem Menschen Antworten auf diese Fragen fehlen, wird ihm das Leben leicht zur Qual.
PA: Brauch es denn zum Denken ein Gegenüber? Man stellt sich das Denken ja immer als einen furchtbar einsamen Prozess vor …
Man braucht in der Jugend Mentoren, aber der erwachsene Mensch muss sich dann selbst im Leben zurecht finden. Ich bin sehr oft allein, ich denke allein, ich schreibe allein. Das Forschen allein gehört zum Leben dazu. Ich hätte aber auch liebend gern eine Forschungsgruppe, habe ich aber nicht. Also muss ich es alleine machen. Die berufliche Begegnung mit anderen Menschen ist dann der Part, wo ich das, was ich gelernt und gedacht habe, weitergeben kann. Ich brauche die Begegnung mit den anderen Menschen, sonst könnte ich nicht glücklich sein, auch um zu merken, dass geistiger Widerhall da ist. „Der Geist Gottes schwebt still über den Wassern“ – da hab‘ ich nichts davon. Ich brauch Menschen. Menschen sind eine Notwendigkeit. Ich brauche immer andere Ansichten, um das eigene Denken zu überprüfen. Ich habe beispielsweise intensiven Austausch mit einem Mann, den man ohne Weiteres als rechts abqualifizieren würde. Das ist aber immer nur der Prüfstand meines Denkens. Aus dem Widerstand und Konflikt, der sich daraus ergibt, lerne ich sehr viel.
PA: Im kommenden Jahr wird in den Prenzlberger Ansichten eine neue Reihe erscheinen mit Interviews und Portraits von Künstlern aus Prenzlauer Berg. Sie scheinen auch eine starke Beziehung zur Kunst zu haben. Beispielsweise bieten Sie ein „Theater gegen Angst“ an. Wie befruchten sich Philosophie und Kunst gegenseitig?
Um erfolgreicher Philosoph zu sein, muss man auch Künstler sein. Unter Kunst verstehe ich die Kreativität, das Meinen, das Glauben, die Fähigkeit Ideen zu entwickeln, auszuformulieren und zu gestalten; eine Vision aufzuziehen, einen Einfall zu haben, eine Inspiration. All das eigentlich, was das Leben für uns toll gestaltet; zu spinnen, verrückt zu sein und das auch in Worten auszugestalten. In dem therapeutischen Theater, das ich anbiete, geht es überhaupt nicht um Erkenntnis, da geht es um den Umgang mit Glaubenssätzen und unserem Verhalten. Da geht es mir darum, die Selbstsicherheit zu pushen. Das biete ich an, weil ich selbst die Theaterwelt liebe: da kann ich verrückt sein, da kann ich maßlos sein. Das ist mein Gegenpol zur Philosophie. Die Kunst ist vor der Philosophie da. Wir brauchen Worte, Sätze, Gedanken, über die wir nachdenken können. Wenn jemand die Welt erfährt und in Worte fasst, ist er für mich schon ein Künstler, ein Dichter oder Romanschreiber. Das gibt mir den Stoff, über den ich als Philosoph nachdenken kann.
Das „Theater gegen Angst“ findet das nächste Mal am 29.01.2017 im „Bühnenrausch“ in der Erich-Weinert-Str. 27 statt. Für diese und andere Angebote ist Dr.Michael Gutmann zu erreichen unter: 030/42807776 oder mail@SokratesBerlin.de.
Mehr Informationen zu den genannten Angeboten von Michael Gutmann gibt es online unter: http://sinn-therapie.com http://theater-gegen-angst.de.
Schöner Beitrag, danke für das Interview. Und ich stimme ihm völlig zu: Was Philosophen von „Philosophie-Professoren“ unterscheidet, ist die Kreativität im Denken. Die wird leider im akademischen Betrieb eher kleingehalten, weil sie als wenig „wissenschaftlich“ gilt. Es ist immer wieder gut, zu hören, dass auch außerhalb der Akademie Entwürfe in der Philosophie existieren, die funktionieren. Erst in der gelebten Freiheit kann sich das Denken wirklich entfalten.
Ja, da gebe ich dir recht. Leider haben es Philosophen außerhalb der Universität sehr schwer, über die Runden zu kommen. Die Uni ist immer noch ihr bester Arbeitgeber, oder? Als Selbstständige geht es ihnen dann plötzlich wie Künstlern. Deshalb vermutlich auch die Solidarität zu den Künsten. Oder ist die Loslösung vom akademischen Betrieb aus der Affinität zur Kunst zu erklären? Henne und Ei.
Ich pflege gar keine Solidarität zu Künstlern! Erst recht nicht aufgrund finanziellen Mangels. Da müsste ich mich ja der Mehrheit der Bevölkerung solidarisch verbunden fühlen. — Obwohl, wenn ich es recht überlege; das könnte ja auch vielleicht reizvoll sein, endlich mal einer Mehrheit anzugehören; na ja!?
Ich pflege eine Liebe zu den Künsten im Sinn der Kreativität. Damit meine ich auch und vor allem das Künstlerische und das Kreative in uns selbst. Wir Philosophen sind ja vor allem Nachdenker: Nach-Denker. Wir brauchen eine kreative Vorgabe, die es uns ermöglicht, über etwas nach-zu-denken, etwas zu prüfen, seinen Gehalt, wenn es ihn denn gibt, zu verstehen. Worüber könnten wir denn sonst nach-denken können.
Freilich, die Bibliotheken bieten viel schönen Stoff, vor allem Stoff der Vergangenheit, über den man klug nachdenken kann. Das ist ja wohl auch der Sinn eines Philosophie-Studiums: Sich im geschützten Rahmen im Nach-denken und Prüfen zu üben. Und das ist auch schön und gut so.
Wenn wir uns aber mit der prall gelebten Gegenwart auseinandersetzen und sie verstehen und unser Verständnis von ihr prüfen wollen, dann sind wir alle, völlig unabhängig von Rang, Titel und finanzieller Kompetenz, auf die Kreativität in uns und in anderen angewiesen, damit wir Denkstoff, etwas zum Nach-denken haben und nicht nur mit weit geöffnetem Mund dem bunten Treiben um uns herum zuschauen müssen.
Kunst und Kreativität liefern uns unseren notwendigen (!) Denkstoff, um über die reine Berichterstattung hinaus über etwas Nachdenken zu können! Deshalb liebe ich ich Kunst und Kreativität! Und deshalb (Stoßgebet an Apollon!) wünsche ich mir vor allem viel eigene Kreativität, um meine Welt zu verstehen, zu gestalten und weise mit ihr umgehen zu können.
Lieber Herr Gutmann,
mein Kommentar war gar nicht als Bezug auf ihre Darstellung gemeint, sondern eher ein spontaner Gedanke meinerseits zu einem Randthema. Ich habe da eher an meine eigenen Erfahrungen gedacht, schließlich mache ich ja auch Kunst 😉