Weddingwandler: Die Tugendbewegung

SONY DSCWenn ich mir Sokrates im Wedding des 21.Jahrhunderts denken müsste, dann käme ich schnell an die Grenzen meines Vorstellungsvermögens. Eventuell wäre er einer von den Flaschensammlern. Er schliefe um diese Zeit mit seinem Hund Aristoteles unter einem Kastanienbaum in den Rehbergen und wüsche sich im Plötzensee. Die Suppe von der letzten „Volxküche“ hinge noch in seinem Vollbart.

Tugendhaftes Leben wird heute definitiv nicht mehr von bärtigen alten Männern verbreitet. In der Regel sind die Asketen der Neuzeit jung, attraktiv, gebildet und… nicht gerade wohlhabend. So wie die Weddingwandler. Sie tun völlig unprätentiös ihren Dienst am Kiez, “für mehr Nachbarschaft und enkeltaugliches Leben”.

Am letzten Sonntag konnte man sie vor dem Café Tassenkuchen treffen. Einige von ihnen schraubten an Fahrrädern und machten sie frühjahrstauglich, Ehrensache. Andere hängten ausrangierte Kleidungsstücke an eine Wäscheleine, zum Mitnehmen. Wieder andere unterhielten sich mit ein paar Nachbarn und schauten das Saatgutangebot durch, ist vielleicht was für den eigenen Balkon dabei? Passanten mögen sich über den Frieden und die Harmonie gewundert haben, die Weddingwandler in den Kiez brachten. Diese Freundlichkeit ist man ja in Berlin generell nicht gewohnt, schon gar nicht von den Jüngeren. Die Nachbarn tragen gewöhnlich schwarze Balken über den Augen und rennen so schnell an einem vorbei, dass sie auch nach Jahren noch ein Mysterium bleiben. Nicht so die Weddingwandler, sie wirken offen und entspannt.

Haben die vielleicht einen im Tee?

Absolut.

Weddingwandler bekommen wöchentlich Tee, Kräuter, Gemüse und Obst aus dem Gutshof Neuruppin direkt in die Malplaquetstraße geliefert. Wer will, kann sich für 60 Euro im Monat eine Lieferung sichern, die garantiert einen 2-Personen-Haushalt versorgt. Falls es dann noch an Brot fehlt, steht das Brotback-Kollektiv gern zur Seite. Für alles Übrige empfiehlt sich der Biomarkt am Leopoldplatz, der jeden Dienstag und Freitag stattfindet. Verhungern muss im Wedding also keiner und für Kleidung und Mobilität ist dank der Kleidertausch- und Fahrradreparatur-Aktionen auch gesorgt.

Was jetzt noch fehlt, ist ein wenig Aufklärung. Dafür finden beispielsweise Filmabende statt, während denen überwiegend gesellschaftskritische Dokumentationen gezeigt werden. Diskussion inbegriffen. Wem so viel Gutes befremdlich erscheint, dem sei hiermit versichert: Es gibt keinen Haken, keinen Knebelvertrag, keine Sekte dahinter. Die Initiative Weddingwandler ist ein eher ungefährlicher Sprössling der Transition Town-Bewegung, die 2006 von Permakulturisten in Großbritannien ins Leben gerufen wurde. Die Bewegung möchte Städte in einen freundlichen Lebensraum umwandeln. Da helfen Gemüsebeete, da hilft aber manchmal auch schon ein Lächeln.

Heutzutage muss man kein Philosoph sein, um für ein tugendhaftes Leben mit gutem Beispiel voran gehen zu wollen. Die antiken Kardinaltugenden – Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit – wurden in den letzten zwei Jahrtausenden dermaßen unter Mitleidenschaft gezogen, dass Überholungsbedarf mehr als offensichtlich ist. Von Permakultur, Fair Trade und Ökostrom hatte Sokrates damals natürlich noch keine Ahnung. Doch er wusste, die Welt ist im Wandel – was heute noch als selbstverständlich gilt, kann bereits morgen der Geschichte angehören. Davon hat selbst unser selbstvergessener Wedding Wind bekommen, und wandelt fleißig mit. Alle Infos und Termine der Weddingwandler hier: weddingwandler.de

Veröffentlicht am 01.04.14 auf dem Wedding-Blog des Tagesspiegels.

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