Berliner Herbst verfallen (Aus der Bahn 9 / 12)

2014-09-02 19.27.12Berlin hängt mir heute Abend an den Fersen wie zähes Kaugummi. Bei jedem Schritt habe ich das Gefühl, ich ziehe etwas hinter mir her oder etwas zieht mich zurück.

Es ist einer dieser Tage, an dem man aus der Ringbahn gar nicht mehr aussteigen möchte, weil man, einmal den vorbestimmten Kreis der Schienen verlassen, zwangsläufig feststellen muss, wie sehr das eigene Leben aus der Bahn geraten ist. Man stolpert, läuft im Zickzack, vor und zurück, bleibt stehen, starrt in ein Schaufenster und denkt gar nichts dabei.

Die Schönen tänzeln rechts und links an mir vorbei wie Kinderseelen, die nichts Böses ahnen, irgendeinem Ziel entgegen, welches sich mir nicht erschließt. Ich klappe meinen Mantelkragen hoch. Der Wind beißt sich in jeden Winkel. Auf der Dänenstraße kommen mir die ersten Verwirrten im Schlängellauf entgegen. Ich überlege, ob es der Wind ist, der sie hin und her wirft, oder doch der Alkohol. Man schafft es immer irgendwie auszuweichen …

Mich von der Straßendisko auf der Schönhauser Allee immer weiter entfernend, erreiche ich schließlich die Behmbrücke. Im Wedding verändert sich sofort das Licht. In Prenzlauer Berg floh ich vor dem grellen Licht. Hier überkommt mich die Angst, von einem Häuserschatten verschluckt zu werden. Prenzlauer Berg ist monochrom, der Wedding verstört mit seinen Kontrasten.

Ich stelle mich vor die bunten Medienplakate in der Jülicherstraße und versuche mir zu merken, welchen Film ich heute, welches Konzert ich morgen und welches Theaterstück ich übermorgen verpassen werde. Doch mein Blick heftet sich an die dreckigen Sozialwohnungen hinter der Plakatwand, die von der untergehenden Sonne in rötliches Licht getaucht werden. Ich schaue über die Plakate und rudere hin und her zwischen romantischem Verfall und verfallener Romantik.

Die Kastanien fallen von den Bäumen, vor meine Füße. Sie wissen, warum ich so traurig bin. Ich schieße eine vor mich her und lass sie meinen Weg bestimmen. Wenig später in einer kuschelige Eckkneipe angelangt, massieren The Cure mein Gehirn. Nach dem ersten Schluck Bier beruhigt sich der Nystagmus meiner Augen. Aufgeregte Diskussionen stranden am Tresen, angespült als unverständliches Gemurmel. Mein Herz schlägt wieder die gesunden 120 BPM. Gerade wollen mir die Augen zufallen, als sich mit einem lauten Knall die Kneipentür öffnet und Herbstlaub über den Tresen fegt. Ich schauere. Bis zum Frühling will ich in dieser Kneipe verharren. Mit ein paar Büchern von Hermann Hesse und Kurt Tucholsky.

3 Kommentare

  1. hannamaria sagt:

    Das Gefühl ständigen Verpassens gehört wohl zu Berlin wie die freilaufenden Hunde …

  2. my nung sagt:

    cowboyisch, die Geschichte vom lonesome rider, sonstwie – isch, wie der ewige Fim Noir, gezeigt in einem leeren Kino, in dem die Sitze noch nach Rauch riechen, da schon längst das Rauchverbot durchgesetzt wurde. In der Ecke am Piano das Gerippe von Tom Waits haut mechanisch in die Tasten, mit den Zähnen „Waltzing Matilda“ klappernd.

  3. juliafeller sagt:

    Ich bin gerade in den sumpfigen, langweiligen Untiefen des Internets auf deinen Blog gestoßen und muss dir sagen, wie viel Freude mir deine Bahn-Geschichte machen. Tatsächlich ist sowas bei der maßlosen Masse an Blogs eine Seltenheit. Dankeschön!

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